Dokumentarfilm über Chodorkowski: Der Held bleibt ein Rätsel
Wer ist Michail Chodorkowski? Selbstloser Demokrat, Opfer Putins, arroganter Konzernchef? "Der Fall Chodorkowski" umkreist diese Fragen, ohne klare Antworten zu geben.
Am Anfang schwenkt die Kamera langsam über ein Schneefeld. Eine kleine Ölförderanlage kommt ins Bild, dann eine russische Kirche. Am Ende des 360-Grad-Schwenks fällt der Blick auf drei russische Jugendliche. "Michail Chodorkowski hat Russland viel Geld gestohlen", sagt einer.
Danach sehen wir in einer schwarzweißen, animierten Sequenz, wie 2003 russische Polizisten das Flugzeug des Konzerchefs Chodorkowski stürmen. Die Kamera fokussiert die Augen der Figur, sie zeigen Erschrecken und eine seltsame Gefasstheit.
In dieser Exposition werden die Elemente sichtbar, mit denen der Regisseur Cyril Tuschi in "Der Fall Chodorkowski" arbeitet: die Inszenierung des Dokumentarischen, der Sinn für ästhetische Effekte und der Anspruch, mehr als eine politische Reportage zu sein. "Der Fall Chodorkowski" wirft einen Panoramablick auf Putins Russland und bedient sich mannigfacher ästhetischer Facetten.
"Der Fall Chodorkowski": Regie: Cyril Tuschi. Dokumentarfilm, Deutschland 2011, 111 Min.
Neoliberaler Typ
Die zarte, flirrende Orchesterkomposition von Arvo Pärt erpresst uns nicht, wie so oft in Dokumentarfilmen, zu Gefühlen, sie begleitet die Bilder auch nicht, sie scheint über ihnen zu schweben. Zudem inszeniert sich Cyril Tuschi als Ich-Erzähler. Eigentlich, sagt Tuschi im Off, ist "Chodorkowski einer, vor dem mich meine Eltern immer gewarnt haben: ein Neoliberaler, der mit Kultur nichts am Hut hat".
Seit dem Erfolg von Michael Moore ist diese "Ich-und-die-Welt"-Pose im Dokumentarischen in Mode. Solche Subjektivierungen wirken leicht überambitioniert. Doch hier ist das Ich sparsam dosiert und damit ein brauchbares Mittel, um russische Politik, von der die meisten Zuschauer nur vage Vorstellungen haben, näher zu rücken.
Chodorkowski ist der berühmteste Häftling in Russland. Er war ein Komsomol-Funktionär, der ein Lenin-Bild über sein Bett hängte. Unter Gorbatschow eröffnete er eine der ersten Privatbanken in Moskau. In den Neunzigern, als das Staatsvermögen in wilden, räuberischen Korruptionsschüben privatisiert wurde, war er vornweg: Er war Besitzer von Yukos-Öl und mehrfacher Milliardär.
Arroganter Typ
2003 fiel er in Ungnade, weil er es wagte, Putin vor laufender Kameras vorzuhalten, wenig gegen die Korruption zu tun. Seitdem sitzt er wegen Steuerhinterziehung im Knast und wird mit immer bizarreren Anklagen überschüttet. Ist Chodorkowski ein selbstloser Demokrat, ein unschuldiges Opfer des autoritären Putin-Regimes? Oder ein Konzernchef, der nur seine Macht überschätzte? Oder beides?
Cyril Tuschi umkreist diese Frage aus verschiedensten Perspektiven. Er interviewt Chodorkowskis Mutter, die Exchefin der Bildungsstiftung des Exkonzerchefs, den Sohn, der in den USA lebt. Er befragt politische Gegner, die Chodorkowski Arroganz attestieren, und Oppositionelle in Moskau, Finanzberater in London und einen eloquenten Ex-KGB-Offizier, der als Bodyguard für ihn arbeitete.
Ein verbitterter Mitarbeiter klagt, dass Chodorkowski, obwohl er sich, Teile seines Vermögens und auch Jobs für Mitarbeiter ins Ausland hätte retten können, sich verhaften ließ. Eine Art rücksichtloser Märtyrer also. Joschka Fischer berichtet, wie euphorisch Putin war, als er mit einem Trick den Yukos-Konzern zerschlagen ließ. Und im großen Finale sieht man staunend, wie Tuschi Chodorkowski während des Prozesses interviewt. Der Angeklagte wirkt in seinem Glaskasten gelassen selbstbewusst und sagt: "Ich war vielleicht etwas naiv."
Autoritärer Typ
So schält sich Schicht für Schicht heraus, was passiert ist: In den 90ern war Chodorkowski ein rabiater Oligarch, der mit Korruption nach oben kam. Doch um die Jahrtausendwende versuchte er den Konzern Yukos zu zivilisieren und Mindeststandards an Transparenz einzuführen. Mit seinem plötzlich erwachten politischen Sendungsbewusstsein kam er Putin in die Quere, der von mehr Marktwirtschaft nichts und von einer vitalen Zivilgesellschaft schon gar nichts hielt. Chodorkowski war, so ein Weggefährte, "Teil eines Systems, dessen Opfer er wurde".
Ein Rätsel bleibt der Held selbst, den sein Sohn einen "autoritären Typ" nennt. Warum ließ er sich verhaften, obwohl er wusste, was auf ihn zukommen würde? Warum wandelt er sich überhaupt vom rücksichtlosen Macher zum (gegenüber Familie und Mitarbeitern nicht weniger rücksichtlosen) Überzeugungstäter?
Mag sein, dass Chodorkowskis jüdische Herkunft und die Ahnung, nie hundertprozentig Teil der russischen Machtelite zu sein, einen distanzierten Blick auf sich selbst ermöglichten. Das Bild, das Tuschi entwirft, ist nicht scharf, etwas bleibt verschwommen. Im Gedächtnis haften bleibt der irritierend uneindeutige Blick der Comicfigur Chodorkowski im Moment der Verhaftung: ängstlich und ruhig zugleich.
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