Nährboden der rechten Gewalt: Der Ober- und der Untergrund
Die Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" ist ein Produkt von deutscher Einheit, rechtsstaatlichem Vakuum und offizieller Ausländerfeindlichkeit.
Im Jahr 1998 führte ein bekanntes deutsches Nachrichtenmagazin ein Gespräch mit dem damaligen Innenminister Otto Schily (SPD). Es ging um Ursachen rechtsextremer Gewalt in Deutschland.
Diese hatte sich nach 1989 und dem Ende der DDR rasant ausgebreitet. Über 150 Todesopfer werden rechtsradikalen Tätern seit der Vereinigung zugerechnet. Hinzu kommen Schwerverletzte, Brand- und Bombenanschläge, pogromartige Ausschreitungen wie in Rostock (1992) oder Hoyerswerda (1991).
Das Nachrichtenmagazin fragte also 1998 den damals frisch gekürten Innenminister: "Es drängt sich der Eindruck auf, dass im Osten der Staat zurückgewichen ist." Der Innenminister erwiderte: "Der Vorwurf ist nicht haltbar. Bestimmte Strukturen müssen dort erst mühsam aufgebaut werden, Polizei und Justiz.
Diesen und einen weiteren Artikel zum Thema Rechtsextremismus von Isolde Charim lesen Sie in der sonntaz vom 19./20. November 2011 – ab Sonnabend zusammen mit der taz am Kiosk oder am eKiosk auf taz.de. Die sonntaz kommt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Zehn Jahre sind eine relativ kurze Zeit. Es gibt im Osten außerdem bei vielen Menschen noch kein unbefangenes Verhältnis zum Staat. Sich einzumischen, Zivilcourage zu zeigen, ist nicht sonderlich ausgeprägt."
Das erstmals seit der Vereinigung von der SPD geführte Ministerium versuchte 1998 das Problem mit der rechten Gewalt gar nicht mehr zu leugnen. Das schien ein echter Fortschritt - im Jahre 1998, dem Jahr, als sich die drei vom Thüringer Heimatschutz, Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, in den Untergrund absetzten, um, wie es die Ermittler heute sagen, eine für die Geschichte der Bundesrepublik beispiellose Mordserie zu beginnen.
Rückschau: DDR und NSU
Die drei aus Jena, so viel ist klar, stammen aus einem nach dem Zusammenbruch der DDR verunsicherten autoritär-nationalistischen Milieu. Und auch schon vor dem Fall der Mauer gab es eine Naziszene im Osten, die sich nach 1989 schnell mit der des Westens verband. In der alten BRD hatten sich bereits in den 1980er Jahren Antifagruppen gegründet, um die Attacken auf Punks, Linke, Homosexuelle und Obdachlose abzuwehren.
Zu den brutalsten Nazi-Formationen zählten damals FAP, Nationale Front, Wiking Jugend, Blood & Honour, die Parteien waren/sind NPD, Republikaner und DVU. Schily sprach 1998 von einer "seelischen Verrohung", die in den 1990er Jahren erschreckende Ausmaße angenommen habe. Und er appellierte an Staat und Gesellschaft: "Zu glauben, ich bin der Teufelsaustreiber der Nation, der in der Lage ist, den Rechtsextremismus über Nacht aus der Welt zu schaffen, ist falsch.
Eher muss man fragen, was haben wir für ein Menschenbild, was vermitteln die Medien? Was kommt bei diesen jungen Menschen an, die sagen, ich hasse Juden oder ich hasse Fremde?" Im Osten brüsteten sich die Nazis damals ganzer "national befreiter Zonen", im Westen schlugen sie eher punktuell und heimlich zu wie in Mölln (1992) oder Solingen (1993).
An vielen Orten im Osten gehörte Anfang der 1990er den Nazis die Straße. Jugendliche Antifaschistinnen stellten sich ihnen vor allem in den Städten entgegen. Auch in Bezirken wie Berlin- Prenzlauer Berg marschierten FAP-Kader am helllichten Tag mit Abzeichen über die Plätze und griffen zusammen mit Hools die wenigen Migranten und die Alternativszene an.
Erst durch eine brachiale Gegenwehr der linken Szene wurde dem vielerorts Einhalt geboten, lange bevor die damals schlimmste Nazi-Organisation staatlicherseits endlich verboten wurden.
Einbürgerung wurde möglich
Otto Schily und Rot-Grün waren nicht die Teufelsaustreiber, aber sie beendeten die jahrelange Propaganda der Kohl-CDU, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei und die Gefahr von links käme. Den in großer Zahl ins Land geholten türkischen Arbeitskräften wurde die Einbürgerung erlaubt und die jahrelange miese Polemik um diese Bevölkerungsgruppe beendet.
Bis dahin wurden Arbeitsmigranten in der öffentlichen Diskussion ähnlich schlechtgeredet wie die vor der faktischen Abschaffung des Asylrechts ins Land drängenden Flüchtlinge, gegen die sich der rechte Hass in den 1990er Jahren an allererster Stelle richtete.
Die psychopathischen Killer von der NSU sind Kinder der 1990er Jahre, aufgewachsen mit typisch zonalen Minderwertigkeitskomplexen und großdeutschen Allmachtsfantasien. Sie holten sich ihre Opfer aus der proletarisch-migrantischen Unterschicht, gegen die sich deutsch-völkische Nationalisten aller Couleur in den 1980er und 1990ern so ausdauernd wandten.
Wie andere Gruppierungen vor ihnen, scheint die NSU im Untergrund ideologisch stillgestanden und die gesellschaftlichen Veränderungen um sie herum nicht mitbekommen zu haben. Hätte sie sich nur einmal versucht, zu erklären, statt nur mit sich selbst und Paulchen Panther zu kommunizieren, es wäre aus mit ihr gewesen.
Gespenster der Kohl-Ära
Jenseits der polizeilichen Ermittlungsarbeit, die jetzt aufklären muss, wie polizeibekannte Leute mit klarem Täterprofil als Verdächtige der Mordserie nicht zugeordnet werden konnten, und jenseits des nun hoffentlich zu erwartenden Mitgefühls für die Opfer und ihre Angehörigen, ist ein Blick auf die "geistigen Brandstifter" jener Jahre so bitter wie notwendig.
Wo auch die Innenminister der Kohl-Ära Nazis von ganz normalen deutschen Nachbarjungs bisweilen kaum zu unterscheiden wussten, wird die Thüringer Verfassungsschutzbehörde nicht die einzige gewesen sein, wo es drunter und drüber ging, sich der Ober- in den Untergrund verkehrte.
Kanzler Kohl musste noch den Kommunismus mit Deutschtum besiegen. Rot-Grün hat diese finstere Ära hinter sich gelassen. Ebenso die Merkel-CDU, die sich heute zu einem offenen Deutschland bekennt. Doch den Worten müssen jetzt Taten folgen.
Die seit den 1990er Jahren gelegten Strukturen im Kampf gegen den Nazismus müssen überprüft werden. Der Druck auf die Szene, aus der die NSU stammt - Freie Kameradschaften, NPD etc. - muss mit dem Ziel von Verbot und Zerschlagung erhöht werden. Auch verbotene Nazigruppen lassen sich infiltrieren und überwachen, sind aber in ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt.
Die NSU-Leute konnten die 14 Jahre im Untergrund nur überleben, da sie auf ein legal operierendes Netzwerk zurückgreifen konnten - und weil der Staatsschutz auf dem rechten Auge blind war. Soll die NSU ein furchtbares und isoliert auftretendes Gespenst aus den 1990ern bleiben, muss hier sofort und prinzipiell gehandelt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vermeintliches Pogrom nach Fußballspiel
Mediale Zerrbilder in Amsterdam
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Berichte über vorbereitetes Ampel-Aus
SPD wirft FDP „politischen Betrug“ vor
Kritik am Deutschen Ethikrat
Bisschen viel Gott
Scholz telefoniert mit Putin
Scholz gibt den „Friedenskanzler“
Toxische Bro-Kultur
Stoppt die Muskulinisten!