Wechsel an der Grünen-Spitze: "Wohlstand neu definieren"
Plötzlich Parteichefin: Grünen-Landesvorsitzende Henrike Müller plädiert dafür, den Blick nicht immer nur auf Lücken des Gemeinwesens zu lenken
taz: Frau Müller, warum wollten Sie Grünen-Chefin werden?
Henrike Müller: Ehrlich gesagt, hätte ich mir das bis vor vier Wochen nicht vorstellen können.
Henrike Müller, 36, ist promovierte Soziologin und arbeitet am Jean-Monnet Zentrum für europäische Studien an der Universität Bremen. Seit dem 12. November ist sie Landesvorsitzende der Grünen, seit Juli Beiträtin in Mitte.
Wir hatten darüber in der Beiratsfraktion mal am Rande gesprochen - aber nicht ernsthaft. Wann wurde es ernst?
Mir war erst sehr spät klar geworden, dass es wirklich keine Kandidatinnen gab. Das war ein Gerücht gewesen. Aber ich hatte das nicht geglaubt. Bevor ich mich für die Bewerbung entschied, war mir wichtig, zu klären, ob Familie, Freunde und die KollegInnen an der Uni diese Entscheidung mittragen. Alle haben mir signalisiert: Wir halten dir den Rücken frei. Sonst hätte ich die Bewerbung nicht einreichen können…
… und die durchgegenderten Grünen hätten ein Frauenproblem gehabt. Wie kommts?
Die Frage haben sich die weiblichen Mitglieder auch gestellt: Es gab ja schon bei den Beiratswahlen Schwierigkeiten, Kandidatinnen zu finden.
Müssen die Grünen noch mehr Frauen-Politik machen?
Nein, einfach zu sagen, wir machen die klassischen Frauen-Felder noch stärker als bisher, hielte ich für den falschen Weg.
Und für den richtigen?
Wir müssen schauen: Fühlen sich Frauen ausreichend thematisch angesprochen - und wenn nein, warum nicht? Dafür müssen wir einen Querschnitt-Blick auf unsere politischen Felder entwickeln, von der Energie- über die Finanz- bis zur Netzpolitik, um dafür zu sorgen, dass Frauen-Interessen dort sichtbar werden - wie durch das Instrument des Lohn-Audit, wie wir es gerade eingefordert haben.
Planen Sie dann als Landesvorstand, vor allem durch Arbeit ins Partei-Innere Mitgliederzahlen zu stabilisieren?
Um weiter Wahlerfolge zu erzielen, müssen wir auch für uns selber klären, was wir vorhaben. Ich stell mir für die Partei vor, präsenter zu werden, nicht nur auf Landes-Ebene, sondern in den Stadtteilen. Da gibt es große Fragen an die Grünen, etwa wie wir zur Netzpolitik stehen, was unsere Antworten sind auf die Finanzkrise. Und wie wir als Europa-Partei mit der europäischen Krise umgehen.
Da haben Sie als Mitarbeiterin des Zentrums für Europa-Studien konkretere Vorstellungen?
Meine erste Antwort ist natürlich: Nicht weniger Europa, sondern mehr. Und da muss die Frage sein: Wie können wir die europäische Solidarität in der Euro-Krise stärken - und etwas gegen die Stimmung der Re-Nationalisierung tun.
Die wird von Inflations-Ängsten befeuert?
Ich kann nachvollziehen, dass es solche Ängste gibt. Die müssen wir ernst nehmen. Unsere Aufgabe muss aber auch sein, sie nicht noch durch Anti-Griechenland-Parolen zu schüren. Uns muss bewusst werden, dass Europa nicht mehr der Nabel der Welt ist: Es gibt zahlreiche aufstrebende Volkswirtschaften, da sind wir nur noch ein Akteur unter vielen. Wenn wir uns jetzt auseinander dividieren lassen, wird es auf Dauer nicht gelingen, international mitzuhalten. Das würde unseren Wohlstand viel stärker gefährden.
Treten die Grünen nicht gerade hier in Bremen mit der Botschaft an, dass wir auf den teilweise verzichten müssen?
Das ist eine Frage der Definition - was ist Verzicht und was verstehen wir unter Wohlstand? Vor allem müssen wir Wohlstand neu definieren.
Au ja. Ein klasse Trick!
Das ist kein Trick. Selbstverständlich müssen wir uns in einem Haushaltsnotlageland fragen, was können wir uns leisten, und was nicht. Ich plädiere trotzdem für einen weiteren Blick auf Wohlstand oder Lebensqualität.
Einen, der defizitäre Bildung und ruinierte Gesundheits- und Sozialsysteme als Plus sieht?
Sicher nicht. Es ist ganz klar, dass gerade in diesen Bereichen etwas getan werden muss. Allerdings wäre es falsch, zu vergessen, was trotz Haushaltsnotlage noch geht. Als Beispiel ist hier der Beschluss der rot-grünen Koalition zu nennen, nachdem der Bereich Bildung mit Schwerpunktmitteln ausgestaltet wird. Das heißt, es wird mehr Geld ausgegeben und in den kommenden zwei Jahren jede Lehrerstelle wieder besetzt. Statt den Blick immer auf die Lücken zu richten, ist es nötig, unsere Energien und Ressourcen effizienter einzusetzen. Denn klar ist: Mehr Geld wird nicht kommen.
Die anderen Ressourcen und Energien nehmen auch ab.
Das ist richtig. Wir müssen schonender mit unserer Umwelt umgehen - und das bedeutet, weniger zu verbrauchen…
Es geht also doch um Verzicht!
Ja, aber das bedeutet doch nicht zwangsläufig den Verlust von Lebensqualität: Ich will nicht erzieherisch klingen…
… aber?
Ich kanns keinem ersparen: Unser Konsum, egal ob es um die Mengen von Fleisch geht, die wir essen, den Elektroschrott, den wir produzieren, oder auch um Zeit - dieser verschwenderische Umgang mit Ressourcen, das muss in dem Ausmaß nicht sein.
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