"Reengineering": Die Neuerfindung der Welt
In Indien erfinden Ingenieure Dinge, die es schon gibt – nur einfacher und preiswerter. Eine Kleinbäuerin profitiert, deutsche Kollegen reagieren.
Bevor sie zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Krankenhaus fährt, legt die Baumwollbäuerin Rangubai Patel ihren besten Sari an, den orange-blauen. Ihr Mann zieht eine frisch gewaschene Baumwollkutte über. Sie steigt hinter ihm aufs Motorrad.
Mehrere Stunden rollen sie über holprige Waldwege in das kleine indische Dorf Pipalgone. Dort steht der Bus, in dem sich die Behandlungsräume der mobilen Klinik befinden. Das Röntgenbild kostet hier 80 Rupien, 1,20 Euro. In einem gewöhnlichen Krankenhaus verlangen sie 150 Rupien. Fast doppelt so viel. In der mobilen Klinik kann sich Rangubai Patel das Röntgen leisten.
Es ist eine grundlegende Veränderung im Leben von Rangubai Patel. Und es steht für eine Umwälzung des weltweiten Markts für Medizinprodukte. Indische Ingenieure zeigen, wie preiswert Technik sein kann. Die deutschen Kollegen müssen reagieren und beweisen, dass sie weiter wichtig sind.
In Deutschland erhält ein Arzt etwa 9,45 Euro für eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs. Wenn es in Indien, China oder Brasilien funktioniert, den Preis zu halbieren, warum dann eigentlich nicht auch hier?
"Die Antwort kann nicht sein: Wenn der Preisdruck steigt, dann entwickeln wir eben einfachere Produkte", sagt Christoph Zindel, Chefentwickler bei Siemens Healt Care in Erlangen. Dort sitzt die Ideenschmiede für das Zukunftsgeschäft: die Weiterentwicklung komplexer Magnetresonanztomografen, Experten sagen MR, Patienten Kernspin oder schlicht Röhre.
Milliarden ehrgeizige Arme
Die tonnenschweren Maschinen sind wegen ihrer Präzision so etwas wie die Mercedesse im Geschäft mit der Körperdurchleuchtung, der bildgebenden Diagnostik. Zindel und seine Leute müssen die Mercedesse immer besser machen, damit sie teuer bleiben dürfen.
Denn in Indien haben sich Ingenieure im selben Konzern, bei Siemens, darauf spezialisiert, die Geräte für die bildgebende Diagnostik abzuspecken, um sie billiger zu machen.
"Reengineering" ist der Fachbegriff für das, was sie leisten: Sie bauen Produkte um, die andere lange vor ihnen erfunden haben - für neue Bedürfnisse. "Wir dürfen nicht auf die alten Produkte aus Deutschland schauen, nur auf ihre Funktionen", sagt Hemant Usgaonkar. Manche Ökonomen sehen im Reengineering eine neue industrielle Revolution. So wie Henry Ford vor rund hundert Jahren durch die Bedürfnisse der neuen amerikanischen Mittelschicht auf eine andere revolutionäre Idee kam: die Fließbandproduktion. Oder wie Toyota vor fünfzig Jahren die Just-in-time-Produktion erfand.
Das neue Marktversprechen, sagte der indische Ökonom Coimbatore Krishnarao Prahalad, seien "die Milliarden ehrgeizigen Armen, die zum ersten Mal an der Marktwirtschaft teilnehmen". Ehrgeizige wie die Familie Patel.
Wie genau indische Ingenieure die Technik für die Röntgenaufnahmen von Rangubai Patel entwerfen, wo sie sich im Vergleich mit ihren deutschen Kollegen sehen und wie der Wettkampf die Entwickler in Erlangen antreibt, lesen Sie in der Ganzen Geschichte „Die Rippen von Frau Patel“ in der aktuellen sonntaz. Am Kiosk, am eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und auf facebook.com/sonntaz
Leser*innenkommentare
sonne_le
Gast
Wer sich über solche Entwicklung beschwert, ist ziemlich arrogant.
Seit langem krankt vor allem das Gesundheitswesen und auch andere Industriezweige daran, dass zwar immer neue und bessere und teurere Produkte entwickelt werden, aber die älteren Dinge werden nicht angefasst und bleiben teuer wie einst, obwohl man durch ein wenig Entwicklung sicher einiges vereinfachen und günstiger machen kann. Aber da bei uns ja die Krankenkasse alles bezahlt, müssen die Unternehmen ja nicht ran.
Also ich finde das gut.
Die Deutschen müssen endlich aufwachen, dass sich die Welt woanders weiterdreht...
Wettbewerb ist gut ...
Gast
daher ist die negative Haltung die anscheinend direkt ausbricht völlig unverständlich ... außerdem hat wohl die deutsche Industrie - in diesem Beispiel Siemens - erkannt, dass Premiumgeräte nur etwas für wohlhabenden Kunden ist, es gleichzeitig aber einen riesigen Markt für weniger gut betuchte Menschen gibt, den man auch bedienen kann.
"Denn in Indien haben sich Ingenieure IM SELBEN KONZERN, BEI SIEMENS, darauf spezialisiert, die Geräte für die bildgebende Diagnostik abzuspecken, um sie billiger zu machen."
Karl Sonnenschein
Gast
Gute und zukunftsfaehige Technik ist einfach herzustellen, billig, unmweltreundlich und frei von jeglichen Patentanspruechen.
Alles andere ist eigennuetziger Schrott.
Was waere die Welt ohne Pizza, Spagetti und die Kartoffel.
EnzoAduro
Gast
Die Früchte der Industrialisierung der westlichen Welt essen, die CO2 Ausstöße in der Vergangenheit aber allein eben dieser zuschreiben.
Das ist verlogen.
Lexi
Gast
Wir brauchen keine Raubkopierer oder verkehrsunfähige Geräte. Wir verarschen uns einfach selbst: http://www.tagesschau.de/inland/medikamente122.html
"Bisher bieten ausländische Versand-Apotheken ihren deutschen Kunden oft großzügige Bonus-Regelungen. Wird der Gesetzentwurf wie geplant umgesetzt, wäre das künftig verboten."
So werden in dieser elenden Bananenrepublik die Leute verarscht und geschröpft. Wer wählt solche Leute?
gfntr
Gast
Das gibt es ach hier, nennt sich open hardware und ermöglicht Sachen wie einen 3D-Drucker für 350€ statt 14.000€.
Das ist der Weg aus dem Kapitalismus.
"Wealth without money" sozusagen ein Grundeinkommen von andersherum.
http://en.wikipedia.org/wiki/Open-source_hardware
witzig
Gast
Wengistens klauen sie nicht so dumm dreist wie die Chinesen. Himmerhin wird das Produkt einbißchen verändert. Sowas nennt man Raubkopieren. Sogar jetzt von Siemens finanziert. Super!
Johnny Cynic
Gast
Klar, wenn das billige Plagiat die Anforderungen des Strahlenschutzes oder der EMV nicht erfüllen muss kann man einen Röntgenapparat aus alten Flippern bauen. Dass der Patient dabei regelrecht gegrillt wird ist ja egal. Der Röntgenapparat ist dann so verkehrsfähig wie der Tata Nano.