piwik no script img

Opern-Uraufführung in BremenMenschen am Sonntag

Mit "All diese Tage" treiben Komponist Moritz Eggert, Librettistin Andrea Heuser und Regisseur Michael Talke im Bremer Goethe-Theater der Oper das Elitäre aus: Das Ergebnis ist oft überbordend bis wuselig - und doch ohne dass die Kunst dabei auf der Strecke bliebe.

Als "Pop-Oper mit Glitzer" will das Theater Bremen die Produktion vermarkten. Sie tut ihr damit Unrecht: All diese Tage ist ernst zu nehmendes Musiktheater. Bild: Jörg Landsberg

BREMEN taz | Puh. Selbst im Traum ist es einfacher die Übersicht zu behalten, als auf der Bühne des Bremer Theaters am Goetheplatz. Dort perkussionieren Jungs und Mädchen in „Stomp“-Manier auf Bierflaschen, einem Motorrad, ihren Extremitäten, mit dem Mund. Eine Orgel braust auf, die elektrische Groovemaschine läuft warm, Kinder- und Erwachsenenchor feiern Hallo-Wach-Crescendi, Vuvuzelas tröten, Streicher schluchzen, E-Gitarren-Riffs heben an. Alleinunterhalter-Rap gibt es, Videos beflirren das Geschehen, Discogetanze, Cheerleadinggepuschel, Papierknödelschlachten.

Auch veritable Opernsänger balancieren auf fast Belcanto-virtuosen Melodielinien Wortfetzen, die leicht zeitversetzt auch eingesprochen und als Übertitel projiziert werden. 123 gleichzeitig neben-, über-, unter- und miteinander agierende Menschen hat Dirigent Florian Ziemer ausgemacht. Ein solcher Zählakt ist dem Zuschauer im überbordenden Wechseln von Farben, Stimmungen, theatralen und musikalischen Ästhetiken unmöglich.

„Vielfalt und Überforderungen prägen unseren Alltag“, erläutert Regisseur Michael Talke. Und genau das definiert sein Inszenierungskonzept wie auch das Kompositionsprinzip von Moritz Eggert für die Uraufführung von „All diese Tage“: Einerseits wird so mit den Mitteln einer fragmentarisierten Wirklichkeit über diese reflektiert. Andererseits soll im Schatten des optisch-akustischen Bühnenfeuerwerks die Leere schmerzhaft spürbar werden.

Die unerfüllten Sehnsüchte, Hoffnungen, Träume, die Jugendliche nach all dem Wochentagseinerlei mit dem Sonntag verbinden: Dutzende Interviews hat Schriftstellerin Andrea Heuser mit Bremer Jugendlichen geführt. Ihre Frage: Was macht Ihr eigentlich am Sonntag? Aus den O-Tönen konstruierte sie 14 Alltagsszenen. Es gibt keine Geschichte, keinen roten Faden, dafür soziale Momentaufnahmen übers Jungsein und das Familienleben heute.

Die Themensplitter sind nicht neu. Ein Junge hat hunderte Freunde bei Facebook, aber keinen, den er kennt – und flüchtet sich in Computerspiele und Spiderman-Kostüm. Ein Vater aus dem Niedriglohnsektor überschüttet seine Tochter mit Büchern, damit sie es einmal besser habe. Einer Mutter fehlt die Ganztagesbetreuung für den Sohn, so muss er sie zum Putzjob begleiten und buhlt dort mit Fragen um Aufmerksamkeit.

Hinreißend wird an einem Rhythmus aus Metronom-Ticktack, Hammerschlägen, angestrengtem Röcheln und Getrommel gezimmert, während „Julian“ singt, ein Baumhaus bauen zu wollen. „Später, später“, rufen die Eltern: „Kann man nicht mal sonntags seine Ruhe haben?!“ Kaleidoskopartig funkeln Episödchen auf. Aus jeder Szene könnte ein ganzes Stück entwickelt werden.

Zur „Zeitoper“ erklärt Moritz Eggert das Werk. Weil er – wie vorm Zweiten Weltkrieg seine Kollegen Kurt Weill, Ernst Krenek, Paul Hindemith – Gegenwartsstoff mit populärer Musik, satirischem Impetus und Musical-Popularität vereint. Weil aber einiges von dem fehlt, was den Werken damals nachgesagt wurde – etwa Unkompliziertheit des Gefühls, Deutlichkeit der politischen Aussage – ließ sich das Theatermarketing zur kruden Genre-Erfindung „Pop-Oper mit Glitzer“ hinreißen, was vielleicht besser klingt als das angestaubte Zeitoper – aber komplett falsch ist: Den Jugendlichen geht es gerade sonntags nicht um Glitzer, sondern um gemeinsam verbrachte Zeit mit der Familie und Freunden. Nur sind die meist zu müde, zu genervt – oder einfach weg. Talke fand diesen Aspekt so überraschend wie bedeutsam, dass er die Aufführung zum Plädoyer für den gesetzlichen Ruhetag zuspitzte. Auf einem aus dem Schnürboden herabschwebenden Zwischenvorhang steht: „Rettet den Sonntag!“

„All diese Tage“ ist als Auftragswerk des Theaters Bremen von, über und mit Jugendlichen entstanden. Von anfangs mehr als 60 Workshop-TeilnehmerInnen hat etwa die Hälfte der 14- bis 19-Jährigen monatelange Proben durchgehalten. Nun spielen sie 100 Minuten mit – bei einem Projekt, das eben gerade nicht als politisch korrekte Integrationsmaßnahme im Status eines amateurhaften Hip-Hop-Musicals hängen bliebe: Mit dieser Produktion lassen sich nicht nur die Eltern der Beteiligten begeistern. Echte Kunst, würdiges, auch kritikwürdiges Musiktheater, Oper ohne elitären Dünkel.

Eggert arbeitet mit Spaß an der musikalischen Illustrierung, mixt unterhaltsam historische Ebenen. Mit sicherem Instinkt für Effekte, klanglustiger Instrumentierung und melodischer Einschmeichelei komponiert er eine Addition von Stilen und Klängen, keine stringente Folge. Damit die Revue den HörerInnen nicht um die Ohren fliegt, klatschen, stampfen, schnipsen, schnalzen, klöppeln, schuhplatteln immer Dutzende Rhythmusarbeiter am Zusammenhalt. Das gelingt mit Verve.

Was Eggert nebenher gerade dem jungen Publikum verdeutlicht, ist die Funktionsweise von Opernmusik. „Josefine“ denkt an ihre Konfirmation: „Es wird eine große Feier geben, dann gehen irgendwann wieder alle.“ Eggert grundiert den ersten Satzteil mit traurig entspannt flirrenden Klängen aus dem Orchestergraben, lässt sie dann wütend-enttäuscht aufwallen: Statt Realität ins Künstliche zu überhöhen, wird sie ins Emotionale vertieft.

Leider ist die Zapp-Hektik der Aufführung derart groß, dass es kaum möglich ist, sich mal auf eine Situation, eine Figur, ein Klangereignis einzulassen. Erst zum Epilog kommt die Bühnentechnik zur Ruhe, wird die Musik tonlos, schweigen alle sangesfreudigen Münder – Stille! Bis das sinnenbetäubte Premierenpublikum aus der Überwältigungsstarre erwacht – und sich fürs Jubeln entscheidet.

Nächste Vorstellungen: heute, 5., 12., 18. und 20. Mai, 19.30 Uhr, Bremen, Theater am Goetheplatz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!