Leben im Knast: Prison Blues

Bei einem Konzert der Berliner Rockerin Cora Lee in der JVA Lichtenberg zeigte sich das Gefängnis nicht als Anstalt des Überwachens und Strafens, sondern als Schutzraum.

Straf- und Schutzraum: der Knast. : DPA

Es sind aufregende Bilder, die da gleich in den Kopf kommen: Ein Konzert im Knast? Johnny Cash, 1968 im Folsom Prison. „Es war so still, so trostlos, so gedämpft“, sollte später Cashs Bassist Marshall Grant über das Konzert sagen. Ein Konzert im Frauenknast? Katja von Garniers Spielfilm „Bandits“ aus dem Jahr 1997, eine Mischung aus Rock’n’Roll-Film, Roadmovie und MTV-Clip in Long-Version, der meist recht schematisch daher kam, aber auch gute Momente hatte, wie die Ausbruchszene.

Dass ein Knastkonzert in der wahren Wirklichkeit ganz anders aussehen kann: das bewies das Konzert der Berliner Rockröhre Cora Lee am vergangenen Freitag. In der Justizvollzugsanstalt Lichtenberg, einem von vier Gefängnissen für Frauen in Berlin, sitzen derzeit 85 Frauen ein – Jugendliche und Drogenabhängige. Die meisten hier, so die Vollzugsbeamtin Ina Rector, sind heroinabhängig. Viele von ihnen sitzen kurz, wegen Beschaffungskriminalität, viele kommen immer wieder.

Knast ist immer schädlich

„Knast ist immer schädlich“, sagt Rector, die große Fürsorge und Gelassenheit ausstrahlt. „Aber hier ist Knast oft auch ein Schutzraum für die Frauen“, erklärt sie weiter. Die Frauen können sich vom Leben auf der Straße erholen, zum Arzt gehen, sich die Zähne machen lassen. Sie können wieder die Schule besuchen, Yoga machen. Und hin und wieder, vielleicht zweimal im Jahr, können sie eine Lesung oder ein Konzert im Knast erleben, wenn zum Beispiel, wie heute, der Kunst- und Literaturverein für Gefangene in Dortmund einen Künstler findet, der umsonst auftritt.

Ina Rector erzählt weiter: Viele der Frauen hier substituieren, nehmen aber auch weiterhin Drogen. „Irgendwie kommen die immer in den Knast“, sagt die Beamtin. Man könne dann Einwegspritzenautomaten aufstellen, also akzeptierend damit umgehen wie hier. Man könne aber auch abstinenzorientiert, also restriktiv damit umgehen – wie in Hamburg seit der Zeit von Ronald Schill als Innensenator. Was dabei herauskommt, das erzählt wenig später eine 40-jährige Gefangene, die es sich im Innenhof des Gefängnisses auf der Bühne vor Cora Lee gemütlich gemacht hat.

„Ein Junkie, den man zwangsweise therapiert“, sagt sie, „der wird gleich wieder anfangen, wenn er rauskommt“. Während Cora Lee im schwarzen Ledermini und Fransenlederjacke ihre Lieder zum Vortrag bringt, während sie zur Freude der Frauen dreckige Witze erzählt und lustige Anekdoten aus dem Alltag des Tourens, der sich auch schon mal in einer Kneipe für Sadomasochisten abspielt – da erzählt die kleine, zierliche, ungeheuer dünne, aber sehr drahtige Frau mit viel Humor und sehr reflektiert, wie sie zu der wurde, die sie heute ist.

Sie erzählt lang, sie könnte „Stunden erzählen“. Aus einer gutbürgerlichen Familie stammt sie, der Vater Feuerwehrmann, die Schwester Polizistin. 1985 setzte sie sich den ersten Schuss. 1991 wurde sie schwanger, machte eine Therapie, wurde clean, arbeitete in der Drogenhilfe. Nach 15 Jahren ging eine Beziehung in die Brüche, sie fing wieder an. Dann kam die Anzeige wegen Unfallflucht. Jetzt will sie erstmal alles auf sich zukommen lassen, freut sich auf den Besuch der Tochter, die Krankenschwester geworden ist, und auf die Therapie, für die sie sich bereits entschieden hat. Immer wieder lacht sie ein charmantes, kluges und sehr, sehr zerbrechliches Lachen.

Cora Lee trifft den Nerv

Und dann steht sie auf. Alle stehen auf. Denn Cora Lee singt zum ersten Mal einen Song, den hier alle kennen: „What’s Up“ von der kalifornischen Frauenrockband 4 Non Blondes, deren Schlagzeugerin, Wanda Day, 1997 an einer Überdosis starb. Cora Lee, die mit breitem Berliner Akzent den Nerv der Frauen hier trifft, bittet eine von ihnen, eine blasse, unscheinbare Frau in Jeans und T-Shirt auf die Bühne. Sie stellt sich als Mitglied der hauseigenen Knastband vor. Und singt dann den Song, diese kraftvolle Emanzipationshymne, mit mehr Soul in der Stimme, als ihn Cora Lee wohl je aufbringen wird. Vor der Bühne stehen jetzt sehr viele Frauen, deren Alter man unmöglich schätzen kann, darunter auch eine mit riesigem Iro, geschwärzten Augenlidern, systematisch zerfetzter Strumpfhose und Piercings an jeder Stelle des Körpers, die sie zeigt.

Schließlich passiert noch etwas Wunderbares: Nach dem Song kommen weitere Frauen auf die Bühne. Sie bitten um eine Gedenkminute für einen Vollzugsbeamten, der verstorben ist. Die silbernen Blätter der Pappeln rascheln laut im Wind. Cora Lee steht neben den Frauen und senkt demütig den Kopf.

Es geht wirklich ganz anders zu im Knast, als man sich das so denkt. Zumindest an diesem Freitagnachmittag.

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