: Von Scham und Ehre
GEFÜHLE Was sagen unsere Empfindungen über unsere Gesellschaft aus? Ute Frevert fragt, wie sich emotionale Konjunkturen erklären lassen
Gefühle haben eine Geschichte. In der Art, wie sie empfunden werden, und in der Bedeutung, die ihnen zukommt, spiegeln sie historische Zeit. Oder andersherum gedacht: Am Stellenwert, den bestimmte Emotionen zu bestimmten Zeiten hatten, kann abgelesen werden, wie sich die Gesellschaft verändert hat.
Diese Gedanken leiteten die Historikerin Ute Frevert in ihrem neuen Buch „Vergängliche Gefühle“. Sie nimmt sich darin exemplarisch zwei Gefühlspaare vor: Scham und Ehre sowie Mitleid und Empathie. Unschwer zu erkennen: Die ersten beiden haben im Laufe der letzten Jahrhunderte an Bedeutung verloren, die anderen beiden an Bedeutung gewonnen.
Scham taugt gut, um zu zeigen, wie sich die Wahrnehmung eines Gefühls verändert hat. Auf der Matrix des Sündenfalls war Scham vor allem ein Synonym für „menschliches Glied“ beziehungsweise für die Geschlechtsteile beider Geschlechter.
Ab dem 19. Jahrhundert jedoch, so legt Frevert kenntnisreich dar, bezeichnete es nur noch die weiblichen Genitalien. In der Folge wurden auch diese, wie alles Geschlechtliche, vor allem für Frauen tabuisiert. Scham wurde zum Gefühl, über Sexuelles wurde nicht gesprochen, aber per Gefühle kommuniziert, etwa indem Frauen erröteten. Mit vielen Verweisen aus der Literatur führt die Autorin weiter zur sozialen Scham oder zu Beschämungen als pädagogischem Mittel.
Die Ausführungen von Frevert lassen sich prima weiterspinnen: Heute schämt sich am ehesten, wer auffliegt, wenn er etwas seinem Wissen nach Unkorrektes getan hat. Und auch im „Fremdschämen“ taucht Scham erneut auf. Es ist eine Wendung, die eine weitere Modifizierung ankündigt, da Unbeteiligte nun stellvertretend nicht vorhandene Gefühle beim eigentlichen Akteur übernehmen. Bei allem Diskutieren über Gefühle, das betont Frevert immer wieder, gibt es kulturelle und geschlechterbezogene Unterschiede, die nicht unbedacht bleiben sollen.
Junge, Alte, Arme, Reiche, Männer, Frauen, und Leute aller verschiedenen Kulturen fühlen anders. Scham etwa trifft Frauen anders als Männer. Den Männern war eher die Ehre vorbehalten. Ein Gefühl, das manipulierend aktiviert werden konnte, wie die faschistische Ideologie zeigte.
Und auch wenn die Verletzung der Ehre heute nicht mehr zum Duell führt und Standesehre kaum mehr eine Rolle spielt, gibt es doch auch immer wieder Situationen, in denen etwa verletzte Familienehre zum Auslöser von Morden wird.
Zu den Gewinnergefühlen hingegen gehört, wie Frevert ausführt, das Mitgefühl. Sein politischer Höhepunkt stellt die Proklamation der UN-Menschenrechtscharta dar. Den Aufschwung der Empathie verknüpft die Autorin mit der Ausbildung des Kapitalismus und der Nationalstaaten.
Wo der nationale Zusammenhalt wichtig ist, wird es bedeutsam, dass nicht ganze Gruppen sozial herausfallen. „Am Siegeszug des Mitgefühls“ sei vor allem beteiligt, dass er anschlussfähig sei für andere Motive und Interessen.
„Mitgefühl stärkte nicht nur und nicht primär die Position des Leidenden“, schreibt sie, „es festigte auch und vornehmlich den Status des Mitleidenden.“ Und „daneben kräftigte es, je nach Objekt und Methode, das Frauenwohl, die nationale Solidarität, die koloniale Mission, die Volksgemeinschaft, die abendländische Zivilisation oder das globale Bewusstsein“. Die Autorin spricht am Ende nicht mehr von Humanität, sondern von „Humanitarismus“. Da schwingt ein angriffslustiger Unterton mit.
Die charmante Boshaftigkeit, die den flott geschriebenen Analysen von Frevert manchmal unterlegt ist, wie auch ihre selbstverständliche Art, bei wissenden Ausführungen nicht nur die Sicht der Männer, sondern auch die der Frauen im Blick zu halten, sind die stärksten Aspekte an diesem dünnen Band. Man könnte sagen: Freverts Text besticht vor allem mit sekundären Tugenden. WALTRAUD SCHWAB
■ Ute Frevert: „Vergängliche Gefühle“. Reihe Frankfurter Vorträge. Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 96 Seiten, 9,90 Euro
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