Köpfe & Bügelbretter in der Bildhauerei: Genealogie des X-Beins

Mit ihren Denkinseln erzählt Evelyne van Duyl im Bremer Marcks-Haus die alte Philosophiegeschichte des Westens nach – sanft schmunzelnd und ohne einen kritischen Gedanken.

Auch Jean-Paul Sartre und Hannah Arendt wirken wie Megahirne mit X-Beinen. Aber so polemisch hat Evelyne van Duyl das alles nicht gemeint. Bild: Gerhard-Marcks-Haus

BREMEN taz | Links, direkt neben dem Eingang thront der erste Kopf. Er ist riesig, unübersehbar – aber doch so aufgebaut, dass es, kaum drin im Bremer Gerhard-Marcks-Haus, schon nötig wird, sich umzudrehen, zurückzuschauen, um zu erkennen: Dieser Kopf, das ist Sokrates, dunkelglänzend, abweisend und fesselnd zugleich. Und es ist unkorrekt, aber schon okay, die Philosophie mit Sokrates beginnen zu lassen, wie Evelyne van Duyl es tut.

Der niederländischen Künstlerin widmet nämlich das Bildhauermuseum die Ausstellung „…es darf gedacht werden“. Unter dem Titel zeigt es ihre „Denkinseln“: Diese Werkgruppe beinhaltet eine – zum Glück im Nebenraum abgestellte – peinliche Hommage an Walter Benjamin mit Schwanenflügel. Ansonsten besteht sie aus einer ansprechend-ekelhaften „Geburt der Philosophie“ – ein wächsernes Riesenhirn, fleischrosa, rot und kackbraun koloriert – sowie aus 22 Philosophenköpfen auf Bügelbrettern. Über die lohnt es sich, zu reden.

Manche der Köpfe, gerade Schopenhauer mit seinen lila Haaren, erinnern an Jim Hensons Muppets. Eigentümlicher aber spielen die Bügelbretter mit dem Klassizismus der Gattung – ohne ihn zu dementieren. Das lässt sich am Sokrates-Kopf gut abbuchstabieren. Denn schon zu dessen Lebzeit war es ja ein alter Brauch, von großen Denkern Porträtplastiken zu produzieren, von Thales, Pythagoras und Heraklit. Selbst bei ihm, dem Troublemaker, hatte es nur etwa 30 Jahre gedauert, bis sein Schüler Platon sich traute, eine Bronze des teuren Toten zu ordern. Ohne Sorge, damit Kunden zu verprellen, hat er sie dann in seiner Schule, der Akademie, aufgestellt, obwohl das Gericht Xantippes Mann ja als Jugendverderber zum Tode durch den Schierling verurteilt hatte. Entsprechend der damals neusten Mode in der Personenbildhauerei sollte das Standbild dem echten Sokrates ähneln, und es sollte zugleich auch schöner sein.

Und weil Sokrates die Menschen ja eben nicht durch körperliche Reize, sondern durch seine Gedanken bezauberte, hieß schöner hier: noch hässlicher. Dass sie einen Schmerbauch hatte, gilt als wahrscheinlich, und X-Beine als sehr sicher, nur fehlt der Beweis: Übrig blieb von der Statue ja nur eine wulstlippige Büste mit ungriechischer Knollenase und Pläte.

Von der stammen alle späteren Sokrates-Köpfe ab. Auch der, den van Duyl aus Ton und Stofffetzen gefertigt hat, aus Anthrazit-Lack sowie Herdpolierpaste. Mit dem Bügelbrett als Sockel hätte sie gleichsam die Fehlstellung der Knie restituiert, ein Element der idealischen Ästhetik des Urbilds wieder entdeckt, den verschollenen Körper des Philosophen als Zeichen des leibfeindlichen Charakters seiner – also letztlich der platonischen – Philosophie, der wiederum Grundlage fast des gesamten abendländischen Denkens wird: Hegel, Voltaire, Heidegger, Augustinus, Kant, Descartes wären, so gesehen, bei van Duyl alles Megahirne mit X-Beinen, dem Geburtsfehler der Philosophie, die zumal demselben Laster frönen: Dem Glattbügeln der Differenz, dem Zwang jeden Gegenstand so lange mit Hitze, Dampf und Gewichtigkeit zu bearbeiten, bis er allgemeingültig flach ist und in jede Schublade passt.

Im Vertrauen: So polemisch ist van Duyl gar nicht. Dem niederländischen Filosofiemagazine, das sich auch besonders für de strijkplanken interessierte, hatte sie diese 2011 durch das Bedürfnis erklärt, die Riesenköppe „so weit als möglich schweben zu lassen“. Und außerdem: „Kaum ist ein Gedanke da, schon ist er wieder weg – eigentlich genau wie ein Bügelbrett: Das klappst du auch zusammen und packst es beiseite“, so denkt van Duyl.

Auch die Werkgruppe selbst wirkt nicht vergrübelt, sondern bestenfalls sinnlich-assoziativ. Gefügt nämlich hat die Künstlerin ihre Köpfe aus sprechenden Materialien: die Gesichtszüge des Fundamentalontologen Martin Heidegger etwa formte sie aus Bleiblechen, denn Blei ist die materia prima der Alchemie – sprich: die Ur-Substanz, das Sein des Seienden, und zugleich das Metall Saturns, des Gestirns der Melancholie. Die ist laut Heidegger Grundstimmung der Philosophie. Und ihr Ergebnis: „Das Dasein ist eine Last“, heißt es gleich mehrfach in „Sein und Zeit“. Und genau so ist es auch gemeint.

Das passt also. Die Haare Hannah Arendts aber aus Treibholz zu formen, weil die nun mal Exilantin war – das scheint ein sehr biografistischer Zugang. Und wenn Kant dann reinweiß aus Gips modelliert und Nietzsche aus roh behämmerten Holzscheiten gefügt wird, taugt das vielleicht als Witzchen, aber nichts weiter: Die künstlerische Idee versumpft tief im Klischee. Und am schlimmsten dort, wo van Duyl versucht, den Kanon zu durchbrechen.

So wäre Belle van Zuylen, die außerhalb der Niederlande als Isabelle de Charrière bekannt ist, eine mögliche Entdeckung. Die bei Utrecht Geborene ist, neben Arendt, einzige Frau der Werkgruppe. Nur sehr wenige wissen, dass sie sich einst übers Testament Jean-Jacques Rousseaus hinwegsetzte und seine „Confessions“ 1789 veröffentlichte. Im Katalog steht es auch nicht – und nicht mal auf der Extra-Website. „Konnte er wirklich wollen“, verteidigt sie den Schritt mit einer messerscharfen Polemik, „dass jene, die er als Unglück seines Lebens angeklagt hatte, davon nichts erfuhren und ganz unbeschämt durch diesen Vorwurf blieben?“

Zugleich himmelte sie, anders als die wachsende Fan-Gemeinde, den Promeneur solitaire nicht an, sondern kritisierte ihn, analysierte den Zusammenhang seiner politischen Fiktion vom Gemeinwillen mit dem realen Grauen revolutionärer Terreur und verteidigte auch mit klugen, letztlich geschlechtersoziologischen Argumenten die Ehre von Jean-Jacques allgemein verleumdeter Lebensgefährtin, seiner Muse und Waschfrau Thérèse Levasseur – so überzeugend, dass die Nationalversammlung der trauscheinlosen Witwe 1791 eine Leibrente zusprach.

Die Charrière-Büste aber hat van Duyl mit einer verzweigten Struktur verziert: Wie eine auberginefarbene Koralle ragt die, von grünen Blättchen gesäumt, aus dem offenen Herz bis zum feingeschnittenen Kopf. In einem bemerkenswert kenntnisarmen Katalogtext, der nur vorgibt, etwas über Belle van Zuylen zu sagen zu haben, wertet Museumsdirektor Arie Hartog „diese Pflanze“ als „einen Hinweis auf die“ – vermeintliche – „philosophische Methode“ de Charrières. Die habe „persönliche Betroffenheit über Systematik“ gestellt behauptet er und sei folglich – ganz fraulich, gell – befangen gewesen im „Widerstreit zwischen Gefühl und Ratio“.

Ikonografisch gibt’s an der Deutung nichts zu meckern. Selbst ihr Machismo ist nicht Hartog alleine anzulasten: Er entströmt direkt der Kunst van Duyls, die sich jede Kritik an der Tradition ganz strikt versagt. Sie reproduziert mit freudigem Schmunzeln nur den westlichen Kanon, und in ihm den Phallogozentrismus einer männlichen Geschichte der Philosophie, herrschende Ideologie, wenn es je eine gab. Die lässt der Frau tatsächlich nur die Rolle der Natur, und selber schuld, wenn sie sich ihr so willig passiv-vaginal noch unterwirft. Die Socken flickt, die Kinder säugt und sanft versonnen lächelnd – seine Hemden bügelt.

„…es darf gedacht werden“: Gerhard-Marcks-Haus, Bremen. Bis 2. Juni
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