Comic-Archiv: Unbesungene Helden im Uni-Keller
Die Uni Oldenburg besitzt einen bemerkenswerten Bestand von alten britischen Comicheften. Angeschafft hat sie der Anglist Kevin Carpenter. Zu seinem Abschied gibt’s nun eine Ausstellung.
OLDENBURG taz | Kevin Carpenter bittet um Nachsicht, dass sein Sprechzimmer so schmucklos ist: Nur wenige Ordner stehen noch im Regal, ein paar Kinderzeichnungen hängen an der Wand, in zwei Stunden kommt ein Techniker und holt den Computer ab. Es ist Carpenters letzter Tag an der Universität Oldenburg, nach fast 41 Jahren Lehrtätigkeit – er unterrichtete hier schon Englisch, als die Institution noch „Pädagogische Hochschule“ hieß – geht der Anglist in den Ruhestand.
Ein Stück von ihm bleibt, in gewisser Hinsicht: In den 1980er-Jahren hatte Carpenter eine Sammlung britischer Comics aus der Zeit von 1873 bis 1939 angeschafft, ein seltener literaturgeschichtlicher Schatz, der zurzeit in einer kleinen, auch im Internet zu sehenden Ausstellung in der Uni-Bibliothek zu sehen ist. Ansonsten allerdings schlummert er im Verborgenen und wartet auf einen Forscher, der ihn ausgräbt.
Carpenters Vermächtnis
„Mein Vermächtnis an die Uni“, sagt Carpenter. Kein unbedeutendes: rund 5.000 Ausgaben von Heftreihen aus der Frühzeit des Comics mit Namen wie „Illustrated Chips“, „The Jolly Jester“ oder „Bubbles Annual“. Viel Stoff also für ambitionierte Nachwuchsanglisten, Material für Doktorarbeiten beispielsweise.
Bislang hielt sich das Interesse indes in Grenzen: Hier und da habe es in den vergangenen drei Jahrzehnten mal eine Anfrage gegeben, berichtet Carpenter. Einmal sei ein irischer Forscher da gewesen und habe sich durch den Bestand gelesen, aber etwas Zählbares ist dabei bislang nicht herausgekommen.
Dabei hätten diese Comics einiges zu erzählen, auch über die humoristischen, anarchischen, manchmal auch schlicht albernen Storys hinaus, in denen oft Landstreicher, Rabauken und Underdogs die Hauptrollen spielen. Sie könnten Aufschluss geben über die Leser, die Zeichner und Autoren, die Verlage und ihren Stellenwert im Kontext des hoch- und spätimperialistischen Königreichs – all das sei noch nie richtig aufgearbeitet worden, sagt Carpenter. „Wir wissen eigentlich immer noch nicht genau, wer diese Hefte eigentlich gelesen hat, welche Altersgruppen, welche Schichten, welche Geschlechter.“
Vom "Schund" zur literarischen Gattung
Es mag auch daran liegen, dass Comics überhaupt erst seit relativ kurzer Zeit als literarische Gattung ernst genommen werden – in Deutschland seit vielleicht zwei Jahrzehnten: Bis dahin wurden sie, wie überhaupt alle Genres der Unterhaltungsliteratur, von rechts wie von links als „Schund“ angefeindet, aus Sorge um die störungsfreie Entwicklung der Heranwachsenden zu schöngeistigen Bildungsbürgern respektive klassenbewussten Proletariern.
Dabei ist der kulturelle Einfluss dieser frühen Comics auch für den Laien zu erahnen. Da wären etwa Weary Willie und Tired Tim, zwei Tramps, der eine dünn und schlaksig, der andere dick und gedrungen, die das Plakat der Ausstellung zieren. Sie erinnern in verdächtigem Maße an das spätere Film-Komikerduo Stan Laurel und Oliver Hardy alias „Dick und Doof“. Tatsächlich lassen sich Verbindungslinien ausmachen. Weary Willie und Tired Tim erreichten das, was man heute wohl als Kultstatus bezeichnen würde, und blieben bis zur Einstellung Titelhelden des Magazins, in dem sie erschienen, – 57 Jahre lang.
„Das hier ist eine wunderbare Geschichte“, sagt Carpenter und zeigt auf einen Strip von 1898, in dem die beiden Tramps eine Statue klauen und sich selbst an ihre Stelle setzen, um am nächsten Tag feierlich vom Bürgermeister enthüllt zu werden. Und sich anschließend den Fluchtweg durch herbeieilende Polizisten freikämpfen zu müssen. Landstreicher, die Bobbies vertrimmen, und das im spätviktorianischen England: Vermutlich waren diese Geschichten auch wegen ihres aufsässigen Subtextes so populär.
Wunderbar vulgär
Das Motiv des pfiffigen Landstreichers entwickelte ein anderer Zeitgenosse zu einer weltberühmten Ikone weiter: Charles Chaplin, dessen berühmtes Outfit direkt aus den Oldenburger Comics entnommen zu sein schien. Von Chaplin stammt auch der Titel der Ausstellung: Die Comics seien „wonderfully vulgar“, sagte er 1957 in einem Interview. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte ein Kritiker sie noch als „unspeakably vulgar“ bezeichnet. Es scheint nur konsequent, dass Chaplin selbst zu einer Comicfigur in einer eigenen Heftreihe wurde, kaum, dass er einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hatte.
Für heutige Geschmäcker sind die Bildergeschichten und die Heftserien eher ungewohnt, etwa in ihrer Textlastigkeit: Sprechblasen sind eher Beiwerk, die Handlung wird unter den Bildern ausgearbeitet. Auch enthielten die Hefte neben Comicstrips auch Short Storys. Das macht die Palette allerdings auch enorm vielseitig und die Zahl der Facetten geradezu unüberschaubar. „Alles, was nur vorstellbar war und gezeichnet werden konnte, wurde verarbeitet“, sagt Carpenter, und so wurde auch nicht davor zurückgeschreckt, ein literarisches Nationalheiligtum wie Arthur Conan Doyles Meisterdetektiv Sherlock Holmes als „Chubblock Homes“ in Frauenkleider zu stecken.
Obwohl Comics heute längst als etablierte Kunstform gelten dürften, die meisten Printmedien regelmäßig Strips veröffentlichen und trotz des Erfolges von Mangas und Graphic Novels: Die Anfänge des modernen Comics würden immer noch ignoriert, sagt Carpenter, der dem Thema erstmals 1981, anlässlich der Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse, eine kleine Ausstellung widmete.
Damals habe die Frankfurter Allgemeine Zeitung in einer Besprechung geschrieben, es sei „höchste Zeit“, sich mit „diesen Lesestoffen“ zu beschäftigen. Das ist es auch drei Jahrzehnte später noch. Carpenter hofft, dass sich irgendwann doch noch jemand findet, der etwas daraus macht; vielleicht einer der Studenten aus seinen letzten Lehrveranstaltungen. Zumindest habe der eine oder andere interessiert gewirkt, sagt er und lächelt. Dann muss er los, sein Büro leer räumen.
„Wonderfully Vulgar – Britische Comics von 1873 bis 1939“: bis 10. Mai, Foyer der Universitätsbibliothek der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
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