Stadtführungen: „Es geht darum, mal genau hinzusehen“

Um die Erkundung des „Roten Weddings“ ging es bei der Gründung von StattReisen vor 30 Jahren. Im Unterschied zum gängigen Touristenprogramm gehe man mehr in den Alltag der Stadt hinein, sagt Geschäftsführer Jörg Zintgraf. Und zwar zu Fuß.

Viele Touristen wollen andere als die üblichen Orte sehen. Bild: AP

taz: Herr Zintgraf, wie viele verschiedene Bedeutungen hat das „Statt“ im Namen Ihrer Firma?

Jörg Zintgraf: Mindestens drei. Also zum einen: Statt in die weite Welt zu reisen, kann man auch die eigene Stadt erkunden. Berlin hat an unbekannten Ecken interessante Stellen, anhand deren man die Geschichte und auch die Brüche erfahren kann. Das können alte Straßenschilder, Wohnhäuser oder ein Fabrikgebäude sein. Im „Statt“ steht eben auch eine kritische Komponente, nämlich die, nicht das Landläufige zu zeigen, sondern unter die Oberfläche zu gucken, differenziert zu schauen. Und schließlich: Statt mit dem Bus durch die Stadt zu fahren, gehen wir zu Fuß.

Was ist daran effektiver?

StattReisen ging aus einer Gruppe der Geschichtswerkstatt Wedding hervor und wurde 1983 gegründet, um die Geschichte des Ortsteils zu erkunden. Heute bietet die Firma etwa 400 öffentliche Führungen im Jahr durch verschiedene Stadtteile an. Gewählt werden kann aus 150 thematisch unterschiedlichen Touren. Insgesamt 1.300 Führungen finden pro Jahr für Schulklassen und andere Gruppen statt. StattReisen hat etwa 50 Guides. Aus dem Ausland kommen nur etwa 10 Prozent der Angemeldeten.

Zur Feier des 30-Jährigen gibt es ein Jubliäumsprogramm, bei dem bis Oktober an jedem Donnerstagabend mit Führungen und Ortsbesuchen der Kiez präsentiert wird, in dem StattReisen seit 30 Jahren zu Hause ist: der Wedding. Info: stattreisenberlin.de

Jörg Zintgraf

52, ist seit 19 Jahren bei StattReisen, seit 2006 als Geschäftsführer der GmbH. Er hat Geschichte, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften in Erlangen studiert.

Es geht uns ja eben darum, mal genau hinzusehen, auch auf scheinbar Unbedeutendes zu achten. Bewusst durch die Stadt zu laufen. Der Gedanke von Nachhaltigkeit und Entschleunigung ist da durchaus mit drin.

Sind manche Kunden enttäuscht, weil die große Sightseeing-Tour ausbleibt?

Nein. Diejenigen, die unser Konzept noch nicht kennen, sind meistens nach kurzer Zeit davon überzeugt.

Wie ist StattReisen damals bei der Gründung vor 30 Jahren angenommen worden?

Die Gründer von StattReisen sind kritisch bis ablehnend beäugt worden. Die wollten ja damals den „Roten Wedding“ wieder erkunden, und vor dem Hintergrund der Städtebaupolitik – einer radikalen Abrisspolitik – war man nicht so erfreut über diese Leute, die sich das mal alles genauer angeschaut haben. Von Anfang an waren wir die Kritiker, die Alternativen. Was irgendwie auch stimmt, im Sinne einer Auseinandersetzung mit dem, was in der Stadt stattfindet. Dieser Nimbus ist teilweise bis heute geblieben.

Sie sprechen von Nachhaltigkeit und Sozialverträglichkeit Ihrer Führungen. Was meinen Sie damit?

Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: In Prenzlauer Berg etwa, da sind wir schon recht früh in den 90ern hingegangen, weil die Entwicklung des Stadtteils so spannend war. Dann kamen auch andere Reiseveranstalter. Oft wird aber nicht mehr auf die Bedürfnisse der Bewohner geachtet. Da haben wir eine kritische Position zu: Toll ist, wenn viele Besucher in die Stadt kommen. Problematisch wird es dann, wenn die Stadt nur noch Kulisse für Touristen ist und die Bewohner dann die Statisten sind. Uns ist es wichtig, in Kontakt mit den Leuten zu bleiben.

Denken Sie, Mitte ist heute nur noch Kulisse?

Wenn wir mit Mitte das historische Zentrum meinen, ist es dort nicht so problematisch. Da ballt sich zwar alles an Touristen, aber da geht man nicht der Bevölkerung auf den Keks. Das findet eher in den Kiezen statt. Prenzlauer Berg, Kreuzberg, Friedrichshain. Da muss man gucken, wie man damit umgeht. Ehemaligen Wohnraum als Appartements zu vermieten sehen wir als problematisch an, weil damit ein Verdrängungsprozess einhergeht. Und wir gucken, inwieweit wir mitverantwortlich sind. Wenn wir irgendwo reingehen, wollen wir das mit den Berlinern gemeinsam machen.

In gewisser Weise verstehen Sie also das Touristen-Bashing?

Wir malen nicht schwarz-weiß. Der Tourismus bringt Geld in die Stadt. Die Frage ist nur, wo fließt es lang, wer hat was davon – und wo profitieren die Berliner auch davon. Daher mögen wir es gerne, wenn Berliner bei unseren Touren dabei sind. Im Moment ist es bei unseren Rundgängen etwa fifty-fifty zwischen Einheimischen und Auswärtigen. Wir wollen, dass beide Gruppen miteinander diskutieren.

Gibt es da auch mal Zoff?

Nein, eigentlich nicht. Konflikte haben wir selten. Unterschiedliche Meinungen sicher, aber das soll ja auch so sein. Das ist uns wichtig, dass verschiedene Positionen gleichberechtigt nebeneinanderstehen.

Was wird diskutiert?

Mit dem Thema Gentrifizierung haben wir gerade ein sehr heißes Thema.

Gibt es bei StattReisen ein spezielles Angebot, das die Verdrängungsprozesse beleuchtet?

Nein, das eben nicht. Wir haben mit monothematischen Touren schlechte Erfahrungen gemacht. Wir sprechen es dort an, wo es sich als Thema aufdrängt.

Was unterscheidet Sie noch von den gängigen Touristenprogrammen?

Ich denke, wir gehen mehr in den Alltag rein, und der spielt sich nicht Unter den Linden oder am Potsdamer Platz ab. Kiezspaziergänge etwa sind zentraler Bestandteil unseres Angebots, ob in Marzahn oder Kreuzberg.

Seit wann gingen die StattReisen-Touren über den eigenen Kiez, den Wedding, hinaus?

Das passierte sehr schnell nach der Gründung. Wir haben in den 80ern den Rundgang „Grenzgänge – grenzenlos“ entwickelt, den wir auch heute noch im Programm haben. Nur funktioniert der heute anders. Damals ging er direkt an der Mauer entlang und thematisierte 300 Jahre Stadtgeschichte, weit bis nach Preußen zurück. Als die Mauer gefallen war, änderte sich das Konzept. Interessant war natürlich von dem Zeitpunkt an zu schauen, wie der Vereinigungsprozess vorangeht. Heute ist „Grenzgänge – grenzenlos“ eine Führung, bei der wir mit Audioguides arbeiten und Tondokumente einspielen, wie etwa die Presslufthämmer, die am Brandenburger Tor eingesetzt wurden, um die Mauer zu bauen.

Ist Ihr Unternehmen sehr expandiert nach der Wende?

Wir haben enormen Zulauf bekommen. Der Fall der Mauer war für unsere eigene Entwicklung ein sehr einschneidendes Ereignis. Plötzlich lag uns das historische Zentrum im Ostteil der Stadt zu Füßen, das heißt, wir konnten auch dort Führungen machen. Zuvor haben wir das zum Teil undercovermäßig gemacht, mit Schulklassen in den Osten zu gehen. Die bestehenden Kontakte haben wir nach der Wende genutzt. Nun wurden wir ein Ost-West-Unternehmen mit Mitarbeitern aus dem Osten und dem Westen.

Wie gewichtig ist die Rolle der zwei Diktaturen, die Berlin erlebt hat, in Ihren Touren?

Sehr gewichtig. Wir haben etwa einen Rundgang durchs Olympiastadion dabei oder „Faschismus – Ermächtigung einer Stadt“. Im Sinne unseres Konzepts soll dabei aber auch immer Sozial- und Alltagsgeschichte erzählt werden. Gerade in diesem Jahr wird ja an das Jahr 1933 erinnert, das greifen wir natürlich auch auf. Berlin lässt sich nicht ohne diese einschneidenden Epochen verstehen.

Gibt es spezifische kulturgeschichtliche Rundgänge?

Literarische Spaziergänge sind ein weiterer wichtiger Zweig bei uns. Das fing mal an mit der Führung „Mit Franz Biberkopf durch den wilden Osten“. Diese Touren funktionieren so, dass wir zum Beispiel an die Romanschauplätze gehen. Wenn man etwa schaut, wie Döblin den Alexanderplatz dargestellt hat, dann ging es uns hier auch um das Nichtsichtbare. Neben dem, was wir sahen, achteten wir auch auf den Wind oder die Geräusche.

Die Sinne spielen bei Ihren Führungen eine große Rolle?

Stadtführungen sind etwas sehr Sinnliches. Das macht die Qualität einer Stadtführung aus. Sonst kann man auch mit einem Buch durch die Stadt gehen.

Eine zu 100 Prozent vorgeplante Tour gibt es nicht?

Es gibt schon vorgeplante Touren. Die Dramaturgie steht fest. Aber dann kommt die Persönlichkeit des Rundgangleiters. Jeder von ihnen hat seine unterschiedlichen Wahrnehmungen und stellt andere Aspekte in den Vordergrund. Und dann kommen die Interessen der Gruppe dazu. So kann es schon sein, dass man das Konzept durchbricht und dass der Rundgang ganz anders wird als zunächst gedacht.

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