Vokalsymphonie der Superlative: Mittendrin im Mahler-Klangrausch
Mit der Idee, Mahlers „Sinfonie der Tausend“ aufzuführen, hat das Oldenburger Staatstheater alle Rekorde gebrochen: 550 Musiker aus der ganzen Region verschlingt Mahlers „Opus Magnum“. Die taz war mittendrin.
Ich gestehe: Die CD mit Mahlers 8. Sinfonie stand nahezu ungehört in meinem Regal. Sicherlich auch, weil es kaum möglich ist, den Verstärker für eine angemessene Lautstärke im Wohnzimmer aufzudrehen. Und das Werk, das Mahler selbst als sein größtes bezeichnete, wirkt beim ersten Hören reichlich durcheinander.
Kaum ein Konzertsaal kann die Massen an Musikern fassen, viel zu teuer die Produktion – höchst selten wird dieses Werk aufgeführt. Die Anfrage des Theaters Oldenburg, eine von 16 Chorstimmen mitzusingen, also mittendrin zu sein, war für mich also eine einmalige Chance. Mitglieder aus 13 Chören im nordwestdeutschen Raum kamen für das Mahler-Projekt zusammen.
Mahler wollte ein Monumentalwerk auf die Bühne bringen, eine „Vokalsymphonie“, die Beethoven und alles übertreffen sollte, was es vorher gab. „Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen“, hat Mahler zu seinem Opus gesagt.
Eine einzelne Stimmen – in der Partitur sind es selten weniger als 10 verschiedene Stimmen, die einen Klang formen – ist in einem solchen Werk ein Nichts in einem totalen Klang-Rausch. Die ersten Proben, die mit den Tönen und Tonfolgen vertraut machen sollen, waren dementsprechend mühsam, eigentlich eine Tortur. Nur wenige Passagen, die man da üben soll, haben über mehrere Takte hinweg einen Zusammenhang, es sind im Grunde Einwürfe, die erst im Kontext wirken können, disharmonisch, chaotisch. Mahler würfelt verschiedene klassische und romantische Form-Muster durcheinander. Wie soll man sich das einprägen?
Wenige Tage vor der Premiere kommen dann alle Musiker zusammen, bei diesem Projekt waren es 550. Nahezu eine halbe Stunde dauert der mühsame Bühnenaufmarsch, bis alle ihren Platz gefunden haben und vor allem auch einen Blickspalt auf den Dirigenten haben, der den Takt angeben soll. Und dann – klingt alles ganz anders als geprobt. Die eine Passage wird völlig übertönt von anderen Stimmen, eine andere, vorher fast unbeachtet, dringt in beinahe solistischer Weise durch, manchmal nur zwei Takte lang, bis alles wieder in einem gewaltigen Klanggewirr unterzugehen scheint. Eben Mahler. Es spielt keine Rolle mehr, wer vom Motettenchor Friesoythe kommt und wer vom Kinderchor der Liebfrauenschule Oldenburg. Bei aller kritischen Reflexion über die Bedeutungslosigkeit des Subjekts, über die potenzielle Faszination faschistoider Ästhetik – ich gestehe: Es ist ein erhebendes Gefühl, sich als kleines Rädchen in dieser Musikmasse zu fühlen, an der richtigen Stelle den richtigen Ton beizutragen. So hat sich für unsere Großeltern vielleicht „Reichsparteitag“ angefühlt. Mit dem Unterschied, dass es dort keine „richtigen Töne“ gab. Im Übrigen war Mahler Jude und dirigierte die Uraufführung bereits 1910. Vor allem jedoch hat er neben den alles erschlagenden Klangkaskaden auch zauberhaft lyrische Passagen in diese Symphonie hineinkomponiert, es gibt einen „Chor der Engel“ und mit geisterhaften Klängen hat Mahler Goethes Bergschluchten-Szene gemalt.
Roger Epple, der neue Oldenburger Generalmusikdirektor, hat sich zugetraut, das alles mit seinem Stab zusammenzubringen. Einer zerbrach ihm zwischen den Fingern, als er mit einer energischen Bewegung Chor und Orchester aus einem Fortissimo in die Generalpause zwingen wollte.
Fünf Aufführungen in vier verschiedenen Sälen sollte es geben, sonst lohnt sich der Aufwand der Einstudierung auch kaum. Jeder Raum hat seine eigenen Klang-Bedingungen. Es begann in der EWE-Arena in Oldenburg, in Cloppenburg war nur die Münsterlandhalle groß genug, in der sonst Rinderhälften versteigert werden. Die Sonne hatte den ganzen Tag den flachen Bau erhitzt, feuchtschwül stand die Luft in der langen gezogenen Halle. Deren eine Hälfte war von Musikern belegt, die andere vom Publikum. Vorn klang es gut – keine Ahnung, was hinten in dem halligen Fabrikgebäude davon ankam. Auf der Bühne jedenfalls kippte einigen Kindern der Kreislauf weg.
Die Stadthalle Wilhelmshaven, deren schlichte Architektur von außen an alles mögliche nur nicht an Kultur denken lässt, birgt dagegen einen kompakten Saal, der eine direkte Beziehung von Musikern und Publikum und einen transparenten Klang ermöglicht.
Wo gesungen wird, kann Musik nicht allein durch Affekte wirken, sondern auch wortgewaltig Sinn aufrufen. Im ersten Teil tut das ein lateinischer Text. Mit dem „Veni creator spiritus“ („Komm, Schöpfer Geist“) wollte der karolingische Universalgelehrte Rabanus Maurus den kreativen Geist der sieben freien Künste rufen. Mahler war fasziniert von der Idee des schöpferischen Genies, letztlich seinem eigenen. Schon im zweiten Takt des Stückes müssen alle alles dafür geben – wie ein Befehl klingt das „Veni“, ein dreifaches Forte zwingt den Schöpfergeist herbei.
Dem Schluss von Goethes „Faust“ hat Mahler den Text für den zweiten Teil entnommen, geradezu orgiastische Passagen sind das: „Bill’ge, was des Mannes Brust ernst und zart beweget, und mit heil’ger Liebeslust, dir entgegen träget ...“ Nach dem Muster des Marienkultes wird das erotische Motiv zum Lob der geistigen Liebe sublimiert, mit dem die „höchsten Herrscherin der Welt” gemeint sei: Der Männerchor antwortet vielstimmig: „Jungfrau, rein im schönsten Sinne, Mutter, .. Königin, Göttern ebenbürtig”.
Mit Goethes „Alles Weibliche zieht uns hinan" endet die Vokalsymphonie - ein geflügeltes Wort, in das der ergriffenen Zuhörer seine Phantasien unmittelbar hineinlegen kann. Wie kitschig, könnte man sagen, wenn man nüchtern dieses „Opus Magnum“ des genial großen Komponisten Mahler seziert. Eine „symbolische Riesenschwarte“, urteilte Adorno. Aber beim Publikum hatte Mahler mit ihr immer Erfolg. Und wenn man mittendrin steht im Klangrausch, als kleines tongebendes Rädchen zum Kreisen der Planeten und Sonnen beitragen kann, ist es doch ein großes Erlebnis und erhabenes Gefühl. Wenn sich zudem die visuelle Erinnerung einstellt, dann ist das eine Musik, die auch von der CD gewaltig klingen kann.
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