Bildungsgewinner: Ganz ruhig in Tenever
Seitdem die Grundschule am Pfälzer Weg mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet wurde, kommt viel Besuch. Der wundert sich über die gute Lernumgebung
„Sozial schwach.“ Das ist ein Begriff, über den sich die Schulleiterin Maresi Lassek richtig aufregen kann. Nicht selten wird er benutzt, um die Familien ihrer Schüler zu beschreiben. Denn die leben in Tenever, dem von Armut geprägten Stadtteil am Rande der Stadt. Unter sozial Schwachen versteht die Leiterin der Grundschule am Pfälzer Weg andere: „Leute, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, die die soziale Spaltung der Stadt voran treiben.“ Damit meint sie: Die wollen, dass ihre Kinder unter ihresgleichen bleiben, nicht auf eine Schule gehen wie die von Lassek, in der 90 Prozent der Kinder „eine Zuwanderungsgeschichte“ haben, wie sie es nennt.
Noch so ein Wort. Lassek spricht nicht von „Migrationshintergründen“, mit allem Spielraum, den der Begriff für negative Assoziationen bietet. Für sie haben die Familien, mit denen sie täglich zu tun hat, Geschichten zu erzählen. Wie sie selbst. Österreicherin ist sie. Geboren im Jahr 1950, kam sie mit im Alter von zehn Jahren nach Deutschland. Man kann das Österreichische noch hören. Sie spricht deutlicher als die nuschelnden Norddeutschen, obwohl sie schon so lange hier lebt. Seit über 30 Jahren unterrichtet sie an Bremer Schulen, davon 20 Jahre an der Schule, die 2006 das erste Mal für den Deutschen Schulpreis der Robert Bosch Stiftung nominiert war.
Im vergangenen Jahr hat sie ihn bekommen. Der Schule gelinge es, heißt es in der Begründung der Jury, „auf eine beispielgebende Weise aus den dissonanten Einflüssen segregierter Sozialmilieus und risikobelasteter Sozialisationsbedingungen eine haltgebende, die familiären und häuslichen Lebenswelten stabilisierende, zurückstrahlende Schulkultur zu entwickeln“. Weil die Jury wohl ahnte, dass diesen Satz kein Mensch versteht, fügte sie noch einen hinzu: „Mit großer Energie und Leidenschaft suchen die Lehrerinnen und Lehrer nach Wegen, die sozialen Teilhabechancen der Kinder und ihrer Eltern zu verbessern.“
Diese Wege lassen sich besichtigen. Hinter den Wohntürmen Tenevers verläuft der Pfälzer Weg, eine autofreie Straße entlang eines Waldstreifens, der die Hochhaussiedlung von Straßenzügen mit Reihen- und Einfamilienhäusern trennt. Vor 20 Jahren wurde hier das Gebäude der neuen Grundschule eröffnet, ein freundlicher Backsteinbau.
Das Büro der Schulleiterin ist leicht zu finden: Auf den Boden geklebte Telefonhörer weisen den Weg. An der Tür klebt ein Zettel mit einem Zitat des Bremer Hochschullehrers Ivan Illich. „Das meiste Lernen resultiert nicht aus Unterricht. Es ist vielmehr das Resultat der ungehinderten Teilnahme in relevanter Umgebung.“ Lassek erklärt, wie das so ist mit der relevanten Umgebung in Tenever. „Unsere Kinder werden in einem Umfeld mit viel weniger Anregungen groß als andere Kinder.“ Und zwar nicht, weil ihre Eltern faul vor dem Fernseher ihr Arbeitslosengeld versaufen, wie ein ehemaliger Bremer FDP-Vorsitzender laut aussprach, was viele denken. „Sondern weil es ihnen am Geld fehlt, um auch nur mal in die Innenstadt zu fahren.“ Immerhin gibt es seit anderthalb Jahren – 40 Jahre nach dem Bau der Schlafstadt – eine durchgehende Verbindung mit der Straßenbahn. Doch sowohl die Einzelfahrkarten als auch das Sozialticket – das ab Januar pro Monat 30,70 Euro kostet – seien für die Familien zu teuer, sagt Lassek.
Durch diese Beschränkungen fehle den Kindern zum einen ein Rahmen, in den sie etwas einordnen können. Stadtteil, Stadt, Bundesland, Staat, Kontinent. Oder Landschaften. „Die Kinder wissen nicht, was ein Fluss ist.“ Zum anderen, sagt Lassek, brauche das kindliche Gehirn für seine Entwicklung vielfältige „authentische Erfahrungen“. Noch ein Lieblingswort.
Die Schulleiterin kann einige solcher Beispiele nennen. Wie fehlendes Geld verhindert, dass Kinder lernen sich zu bewegen. „Viele haben Schuhe, die ihnen nicht passen, in denen sie nicht gut laufen können.“ Oder sie können am Sport nicht teilnehmen, weil sie dazu spezielle Kleidung bräuchten. „Wir waren mit einer Klasse auf einem Fußballturnier“, erinnert sie sich, „es regnete. Weil unsere Kinder keine Schuhe mit Stollen hatten, rutschten sie auf dem nassen Rasen viel zu oft aus.“ Wenn das allen so gegangen wäre, hätten sie die Schuhe ausziehen und eine Matsch-Sause veranstalten können. So erfuhren die Dritt- und Viertklässler mal wieder die eigene Ungenügsamkeit.
Wer darauf entgegnet, man könne gebrauchte Kleidung im Internet oder auf dem Flohmarkt kaufen, hat nicht verstanden, dass nicht jeder über einen Computer verfügt und über das nötige „Weltwissen“, wie Lassek es nennt, um solche Schnäppchen zu schießen.
Dieses Wissen vermitteln Lassek und ihre KollegInnen. Ihre Elternarbeit geht weit darüber hinaus, zum halbjährlichen Elternabend einzuladen und fehlendes Erscheinen als Desinteresse zu werten. „Es erwies sich als nicht hilfreich, über die Unfähigkeit der Eltern zu klagen, sich am Schulleben zu beteiligen beziehungsweise ihr Kind zu unterstützen“, schrieb Lassek im September in einem Beitrag für die Zeitschrift des Deutschen Grundschulverbandes, dessen Vorsitzende sie ist. Sie erklärt, warum viele nicht kommen. „Die Hürde zum Elternabend zu kommen ist niedrig, wenn man perfekt Deutsch spricht und nur ein oder zwei Kinder hat.“
Statt zu jammern, veränderte das Kollegium am Pfälzer Weg die Strukturen so, dass Eltern kommen konnten und wollten. Und erfand Kesch, kurz für „Kinder, Eltern, Schule im Dialog“, ein strukturiertes Programm mit Kinderbetreuung für authentische Erfahrungen.
Die machen alle Beteiligten: ErzieherInnen des kooperierenden Hortes und LehrerInnen ermöglichen nicht nur Ausflüge und Aktivitäten. In Elterngesprächen erklären sie sich, was ihnen wichtig ist, was sie für eine gute Entwicklung der Kinder für wichtig halten. Radfahren zum Beispiel. Dass die Botschaft ankommt, hält Konrektorin Beatrix Harnisch-Soller, die beim Gespräch in Lasseks Büro dabei ist, für bewiesen. Sie erzählt von dem Kollegen, der sich wunderte, dass in der Nachbarklasse alle Kinder ein Rad hatten. „In seiner waren das nur drei, vier: Die hatte nicht an Kesch teilgenommen.“ Denn das Geld, das für das Programm zur Verfügung steht, reicht immer nur für zwei Klassen – oder Lerngruppen, wie es besser heißen sollte, weil jahrgangsübergreifend unterrichtet wird.
Die Elterngespräche sollen keine Einbahnstraße sein, kein wattig verpackter Weg, ein Anliegen an den Mann und die Frau zu bringen. „Wir wollen, dass sich beide Seiten verstehen.“ Das sei im Interesse der Kinder, die in zwei Welten zu Hause sind und manchmal dazwischen stehen. „Wie strafen Eltern in Ghana?“ fragt Lassek und gibt die Antwort. Dort müssen Kinder auf den Boden schauen, wenn mit ihnen geschimpft wird. „Wenn ihnen dann eine deutsche Lehrerin befiehlt, ihr in die Augen zu gucken, dann weiß sie, warum sie das nicht tun und kann erklären, warum ihr das wichtig ist.“
Eine ähnliche Perspektive hat Lassek auf die Zweisprachigkeit der Kinder. Das Problem sei nicht, dass die Kinder mehr als eine Sprache sprechen, sondern dass Schulen nicht wüssten, wie sie das nutzen können.
Es ist nicht alles eitel Sonnenschein am Pfälzer Weg. „Die Bedingungen sind schwierig und manchmal geht es unter die Haut“, sagt Lassek und ihre Konrektorin nickt. Mit welchen Schicksalen sie tagtäglich zu tun haben, werde ihr manchmal wieder an der Reaktion der jungen Kolleginnen bewusst. „Die gehen im ersten halben Jahr durch ein Tal.“ Wieder raus gekommen seien sie aber alle. Die beiden Rektorinnen glauben, es helfe, dass sie nicht als Einzelkämpferinnen vor den Klassen stehen, sondern im Team arbeiten und gemeinsame Regeln verabredet haben. So könne niemand gegeneinander ausgespielt werden.
Und wie viel Unterricht ist unter solchen Voraussetzungen möglich? Lassek lacht. Sie kennt das Vorurteil, am Pfälzer Weg würde nur gekuschelt, an Lernen sei nicht zu denken. „Das erste, was Besucher sagen, ist: ’Es ist so ruhig bei Ihnen.‘ Das zweite: ’Wir haben kaum Streit gesehen‘.“ Die Kinder seien gute Lerner, sagt sie, einige entwickelten großen Ehrgeiz. Als es noch Gymnasialempfehlungen gab, hätten 30 Prozent eine bekommen. Es gibt einen Grund für den Lerneifer. „Die finden Schule toll, sie haben sonst ja nicht so viel.“
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