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Archiv-Artikel

Strickt an der Revolution!

Warum trug der APO-Führer Rudi Dutschke fast immer denselben gestreiften Pullover? Den Pulli strickte Dutschkes Schwiegermutter ursprünglich für ihre Tochter Gretchen. Er machte unverwundbar. Und er transportiert eine Botschaft: Nur wer Pullover strickt für einen geliebten Menschen, bekommt die befreite Menschheit in den Blick

VON JOACHIM LOTTMANN

Als es auf den Höhepunkt der politischen und soziokulturellen Auseinandersetzungen Mitte der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts zuging, schenkte Rudi Dutschkes Frau Gretchen dem Revolutionsführer einen Pullover, den ihre eigene Mutter, somit Rudis Schwiegermutter, selbst gestrickt hatte. Gretchen gab es später selbst zu, in ihrem liebenswerten US-Akzent: „Der Pullover war von meine Mutter fuer mich gestrickt als ich noch in College in den USA war. Rudi hat es geliebt und so bekam er es von mir. Die Farben sind schwarz, brown, olivengruen und turqoise.“

Die Abstammung von der Schwiegermutter ist insofern verblüffend, als dieser ja schon bald legendäre „Rudi-Dutschke-Pullover“ bis heute mächtigstes Indiz für Rudis Tauglichkeit als Popstar sein soll. Wer so einen Pullover trägt, so die Argumentationslinie vieler Theoretiker der Popkultur, habe das „Zeug zu jugendidolmäßigen Ikonografisierung“ (Professor Dr. Diedrich Diederichsen, Hamburg und Berlin).

Es ist, als erführe man, James Deans Jeans aus „Rebel without a cause“ habe dessen fränkische Großmutter in Nürnberg nach eigenen Mustern in den Zwanzigerjahren zusammengenäht. Andererseits erklärt sich nur so die mythische Kraft des Pullovers, in den hanfhaltige sowie feine silberhaltige Heilfäden aus China eingewebt wurden. Maschinell wäre das gar nicht möglich gewesen. Nur so ist die Tatsache zu rationalisieren, dass der SDS-Führer in allen Straßenschlachten, in denen er den magischen Pop-Pullover weit sichtbar für Freund und Feind trug, unverletzt blieb.

Um die herrliche Textilie – heute eine Reliquie im Museum für Heimatgeschichte in Luckenwalde – bildete sich ein unsichtbarer, magischer Raum, der unbetretbar war, auch und gerade den waffenstarrenden Mordsöldnern vom Schlage Kurras’.

Die große Textilienforscherin Rebecca Casati schrieb in ihrer Magisterarbeit „Von außen nach innen: Der Dutschkepullover und die Revolution“ von der enormen Sogwirkung, die von der Farbgebung des Stoffes ausging. Keinesfalls die erwarteten Popfarben, schon gar nicht Kinderfarben machten den Reiz aus, sondern braune, handtellerbreite Streifen, die sich mit schlecht ausgeführten, unregelmäßigen grünen und türkisfarbenen Streifen abwechselten.

Frauen waren davon besonders angezogen.

Eines Tages, erzählt Marek Dutschke, heute Sohn des Verstorbenen, kam Rudi völlig verstört nach Hause, streifte den Pulli ab und sagte zu Gretchen: „Du kannst dir nicht vorstellen, was mir eben mit einer anderen Frau passiert ist. Sie wollte, dass ich dich verlasse und mit ihr zusammenziehe!“ Vorher hatte sie den Pullover bewundert, die eingewebten Fäden berührt …

Es versteht sich von selbst, dass immer wieder hochrangige Gutmenschen versuchten, in den Besitz des charismatischen Pullovers zu gelangen. In ihm transzendiert sich viel mehr von Rudis wahrer Macht als nur vordergründige Fragen wie „Mache ich jetzt eine Räterepublik? Oder erst die Wiedervereinigung? Und wie verhindere, dass die Nazis wieder an die Macht kommen?“

Eher erzählt der Dutschke-Pullover etwas von der Absolutheit der Liebe, die in den geheimnisvollen Streifen steckt, aber auch von der Verschränktheit vom Glauben an sich selbst und der Universalität der Gesellschaft: Nur wer seinen Pullover selbst strickt, für sich oder für einen geliebten Menschen, wird die befreite Menschheit in den Blick bekommen können.

JOACHIM LOTTMANN, 49, ist Schriftsteller („Die Jugend von heute“)