Sprezzatura auf Irisch

Windhunde und passionierte Aristokraten: Paul Murrays amüsanter Roman „An Evening Of Long Goodbyes“

Merkwürdiger Titel für ein Buch auf Deutsch: „An Evening Of Long Goodbyes“. Das ist der Name des Windhundes, der auf dem schönen Schutzumschlag abgebildet ist. Der Hund spielt in Paul Murrays erstem Roman eine Rolle, wenn auch keine sehr große. Die englische Ausgabe war recht erfolgreich, das Buch wurde 2003 für den Whitbread Prize für Erstlingswerke nominiert. Die Jury bescheinigte Murray, dass seine Geschichte „umwerfend, hervorragend konstruiert und sehr komisch“ sei – ein typisch irischer Roman eben.

Aber das ist er gar nicht. Er erinnert eher an „Brideshead Revisited“ und andere englische Geschichten vom Lande, jedenfalls anfangs. Ich-Erzähler Charles Hythloday hat sich sein Leben auf Amaurot, dem Herrenhaus seiner Familie, das in einem südlichen Vorort Dublins am Meer steht, gemütlich eingerichtet. Er ist 24 und hat sein Studium am Trinity College abgebrochen. Stattdessen will er den Lebensstil des aristokratischen Landadels im boomenden Dublin des 21. Jahrhunderts wiederbeleben. „Sprezzatura“, so nennt er das: flanieren, die Kanapees verspeisen, die ihm seine bosnische Haushälterin Frau P. zubereitet, den Weinkeller des verstorbenen Vaters leeren und Videos aus den 50er-Jahren mit seiner Lieblingsschauspielerin Gene Tierney anschauen.

Bei der „Sprezzatura“ wird Hythloday gelegentlich von seiner jüngeren, hysterischen Schwester Bel gestört, die Schauspielerin werden will und stets Männer mit nach Hause bringt, die weit unter dem Familienniveau liegen, wie Hythloday findet – besonders Frank, ein ungebildeter Gelegenheitsarbeiter mit einer Sprache, die Charles die Tränen in die Augen treibt. Dann findet Bel die Briefe in einer Schublade: ungeöffnete Rechnungen und die Androhung der Bank, Amaurot zu pfänden. Hythloday versucht, mithilfe des Briefträgers die Finanzmisere durch Sprengung eines Turms im Park des Anwesens und Vortäuschen seines eigenen Todes zu beheben. Es misslingt. Frau P. hatte den Rest ihrer illegal eingewanderten Familie im Turm versteckt. Hythloday wird nur leicht verletzt, er wacht, immer noch benommen, im Krankenhaus mit einer Gehirnerschütterung auf und wähnt sich in Chile, gemeinsam mit Irlands erstem Literaturnobelpreisträger William Butler Yeats, mit dem er sich vortrefflich über Poesie unterhält.

Als seine Mutter aus der Nervenheilanstalt entlassen wird und nach Hause zurückkehrt, will sie die Familie reformieren, streicht seine Bezüge, wirft ihn hinaus und wandelt Amaurot in ein Amateurtheater für Bel um. Charles kommt in der Außenwelt und dem irischen Wirtschaftsboom nicht zurecht. Ausgerechnet Frank, dem Bel inzwischen den Laufpass gegeben hat, nimmt ihn unter seine Fittiche. Hythloday kommt dadurch mit der realen Welt in Berührung: mit einem ersten Job in einer Bäckerei, mit Heroinsüchtigen, mit einer einbeinigen Verführerin vom Balkan, und mit Windhundrennen, wobei sich „An Evening Of Long Goodbyes“ als besonders erfolgloses Tier entpuppt.

Diese Abschweifungen eröffnen Murray die Gelegenheit, seinen Wortwitz und seine Erzählgabe zu entfalten, was auch in der hervorragenden Übersetzung von Wolfgang Müller erhalten bleibt. Der Leser sieht die Welt durch Hythlodays Augen, aber Murray schafft es dennoch, die Ereignisse und Situationen zu vermitteln, bevor sie Hythloday bewusst werden.

Paul Murray, Jahrgang 1975, studierte englische Literatur am Dubliner Trinity College und kreatives Schreiben an der University of East Anglia. Danach arbeitete er als Buchhändler. Einziges Manko seines Buches ist die Länge: mehr als 570 Seiten. Dabei ist nach zwei Dritteln die Geschichte erzählt. Hätte er rechtzeitig aufgehört, wäre es ein herausragendes Buch geworden. So ist es nur ein amüsantes. Aber das ist ja auch schon etwas.

RALF SOTSCHECK

Paul Murray. „An Evening Of Long Goodbyes“. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Verlag Antje Kunstmann, München 2005, 576 Seiten, 24,90 Euro