Der Don Juan unter den Vögeln

VERLUST Ein Zugvogel, 12 Gramm schwer, der Seggenrohrsänger. 20 Millionen Euro wurden bisher für seine Rettung aufgewandt, 22 Länder sind daran beteiligt. Trotzdem ist nicht sicher, ob er nicht doch aussterben wird

VON ANSELM WEIDNER

Seggenrohrsänger heißt er – in Norddeutschland müsste man ihn kennen. Einst war er in der dortigen Moorlandschaft der häufigste Singvogel. „Spatz der Moore“, sagten die Leute. Auch: „Don Juan unter den Vögeln“. Die Moore sind weg, mit ihnen der Seggenrohrsänger und sein unaufhörliches Balzen. Kein Vogel hat vergleichbar große Hoden wie er. Polyamorie, Polygamie, Promiskuität – wenn es aufs Tierreich übertragen werden kann, dann bei diesem Vogel.

Wer ihn finden will, muss in die Niederungen des Flusses Biebrza im Nordosten Polens fahren. Soweit das Auge reicht, stehen Gräser mit goldbraunen Ähren kniehoch im dunklen Moorwasser, da und dort überwuchert von Moospolstern, dazwischen vereinzelt Birken und Gestrüpp. Die Abendsonne vergoldet die weite amphibische Landschaft. Vieltönend ist der Lärm, den die Insekten, die Moorvögel erzeugen. Wachtelkönig, Birkhuhn, Doppelschnepfe. Es schnarrt, knarrt, rätscht, klappert und flötet. Gerade dominieren die Seggenrohrsänger, die unruhig über die glitzernden Wasserflächen flattern. Mitte Mai ist, Seggenrohrsänger-Balzzeit – Tag und Nacht.

Promiske Vögel

„Die Männchen, was tun sie, die ganze Brutzeit? Nichts als balzen, balzen, balzen“, sagt Martin Flade, Landschaftsökologe, der im Brandenburger Landesumweltamt arbeitet. „Und die Weibchen versuchen möglichst viele Männchen abzubekommen, es könnte ja mal ein Versager dabei sein.“ Flade begann vor über zwanzig Jahren mit der Rettung des Seggenrohrsängers. Dessen Promiskuität habe ihn nicht davor geschützt, zum seltensten Zugvogel unter Europas Singvögeln zu werden. Er ist fast ausgestorben. Mittlerweile hängen Naturschutz- und Forschungsprojekte mit einem Budget von etwa 20 Millionen Euro an seiner Rettung. Zweiundzwanzig Ländern auf drei Kontinenten von Sibirien bis Westafrika sind involviert.

Der Seggenrohrsänger kommt nur auf überschwemmten Seggenwiesen in Niedermooren vor. „Solche Lebensräume sind extrem nahrungsreich. Viele Insekten, Spinnen, Libellen, Sumpfheuschrecken, Eintagsfliegen, Wasserkäfer“, zählt Flade auf. „Im Nahrungsüberfluss können die Weibchen ihre Brut alleine versorgen. Die Männchen ziehen balzend weiter.“ Jahrtausende war das ein Evolutionsvorteil, bis der Mensch anfing, die Moore zu entwässern. Der breite Niedermoorgürtel von Holland bis Sibirien ist innerhalb von zwei Jahrhunderten fast verschwunden – damit der Seggenrohrsänger. Auf 10.000 singende Männchen wird die Population noch geschätzt. Das klinge viel, meint ein Kollege von Flade. „Und wenn es um große Tiere wie Adler oder Tiger ginge, wäre es auch viel.“ So aber. Während der letzten zehn Jahre sei immerhin die Stabilisierung des Restbestands gelungen – zumindest in Polen und Weißrussland.

In den verbliebenen Niedermooren beiderseits der deutsch-polnischem Grenze hingegen sind 2012 nur noch 34 singende Männchen gezählt worden – ein historischer Tiefstand.

Wladimir Malaschewitsch ist ein weiterer Retter des Seggenrohrsängers. Der Biologe vom weißrussischen Vogelschutzbund koordiniert den internationalen Seggenrohrsängerschutz. Zehn Prozent der ursprünglichen weißrussischen Moore sind noch erhalten, einmalig in Europa. Fast die Hälfte der weltweiten Seggenrohrsängerpopulation brütet dort.

Weißrussland ist ein Schlüsselland, wenn es darum geht, diese bedrohte Art doch noch zu retten. Bis in die 90er Jahre wurden in Belarus tausende Hektar Moor entwässert. Flade erzählt, wie er 1995 ins Moor Swanjetz kam, die Seggenrohrsänger da auch fand und gleichzeitig mit ansah, wie die Vegetation mit Planierraupen in großem Stil weggeschoben wurde. „Bagger haben Gräben ausgehoben, das Wasser schoss aus dem Moor raus.“ Flade war schockiert. Der Naturschützer aus Brandenburg ist ein gestandener Mann. Eigentlich lacht er gern. Und eigentlich weigert er sich, immer nur zu glauben, dass alles schlechter wird.

„Dass der Seggenrohrsänger in Swanjetz entdeckt wurde, das war der Wendepunkt.“ Die weißrussischen Kollegen hätten sehr schnell begriffen, sagt Flade, dass es bei seiner Rettung um viel mehr gehe, als um ein unscheinbares Vögelchen. Es geht um biologische Vielfalt und um Klimaschutz. Und entscheidend: Es geht darum, dass man mit Klimaschutz auch Geld verdienen kann.

Moore speichern CO2. Werden sie trockengelegt, entweicht es in großen Mengen. In Weißrussland liegen die Treibhausgasemissionen aus den Riesenflächen trockengelegter Moore über denen des gesamten Verkehrs. Als verstanden wurde, dass Moore die Emissionen von Treibhausgasen verringern, hätten sich in Weißrussland die Prioritäten verschoben. Jetzt werden sie nicht mehr trockengelegt, sondern wieder vernässt. Dafür will Weißrussland CO2-Zertifikate auf dem „freiwilligen Kioto-Markt“ handeln. Industrieländer kaufen diese Zertifikate, um so wiederum ihre Klimagasbilanz zu verbessern. Mit den Einnahmen werden dann in Weißrussland weitere Moore renaturiert.

Die Habitate in den mittel- und osteuropäischen Brutgebieten zu erhalten, ist das eine, die Stopps auf der viereinhalbtausend Kilometer langen Zugroute durch Frankreich entlang der Atlantikküste, über Spanien und Marokko und die Überwinterungsgebiete in Afrika zu schützen, das andere. „Was nützt aller Vogelschutz in Europa“, sagt Martin Flade, „wenn wir nicht wissen, wie Seggenrohrsänger in Afrika bedroht sind.“

Im Jahr 2003 war im Rahmen der Bonner Konvention zum Schutz von wandernden Tierarten eine erste offizielle Erklärung, ein Memorandum of Understanding, zum Schutz des Seggenrohrsängers unterzeichnet worden. Bisher gibt es solche internationalen Schutzabkommen für Antilopen, Elefanten, Wale, nun wurde eine solche Vereinbarung erstmals für einen unscheinbaren Sing- und Zugvogel beschlossen. Dafür musste vor allem rausgefunden werden, wo die kleinen Vögel in Afrika überwintern und wie es dort um ihren Lebensraum bestellt ist. Man wusste: Es muss am Rande der Sahelzone sein. Nur wo?

Als die Forscher, etwa mit Hilfe der Analyse der Federn, Überwinterungsgebiete näher bestimmen konnten, wurde ziemlich schnell klar, dass auch dort die Landschaft nicht mehr intakt ist. Die früheren Feuchtgebiete im Senegaldelta und im Binnendelta des Niger werden in Reisanbaugebiete verwandelt. „Nahrungsmittelknappheit, Abhängigkeit der Sahelländer vom europäischen Lebensmittelmarkt, der Einsatz des verbotenen Insektenschutzmittels DDT, das europäische Chemiekonzerne weiter nach Afrika verkaufen, Klimawandel, das Anwachsen der Wüsten“, all das, was Flade da aufzählt, seien die Gründe, warum im Sahel Sümpfe urbar gemacht werden und die landwirtschaftliche Nutzung ausgeweitet wird. Damit verschwinden Lebensräume für die Zugvögel.

Hunger oder Naturschutz

Im Jahr 2007 konnten die Retter des Seggenrohrsängers, darunter Flade, eine erste Expedition in den Djoudj-Nationalpark im Senegaldelta machen. Das Überwinterungsgebiet des Vogels am nördlichen Rand des Nationalparks ist gefährdet. Es wird eingedeicht, die Wasserstände sinken, das Gebiet trocknet aus. „Der Djoudj-Nationalpark ist das ideale Überwinterungsgebiet für den Seggenrohrsänger. Es wäre nicht schlecht, wenn die Länder des Nordens uns beim Schutz dieser Art unterstützen würden“, sagt Ibrahima Diop, der Nationalparkdirektor. „Und man muss die Bevölkerung miteinbeziehen.“ Denn, ergänzt sein Kollege Bourama Niagate, „in Ländern, in denen Menschen verhungern, muss der Schutz der Natur gegenüber den Ernährungsinteressen der Menschen grundsätzlich zurückstehen.“ Niagate ist Direktor des Nationalparks und Biosphärenreservats Boucle du Baoulé in Mali – einem Reservat so groß wie Bayern, wo auch Überwinterungsquartiere des Vogels vermutet werden. Dort zu forschen geht derzeit nicht. Die politische Situation ist zu unsicher.

Martin Flade zeigt ein Foto. Es ist schon alt, aber er holt es immer wieder hervor, weil es Symbolkraft hat. Auf dem Bild stehen der weißrussische und der senegalesische Vogelschützer Arm in Arm im Wasser irgendwo im Senegaldelta, nach Tuaregart in dunkle Tücher gehüllt. Sie fanden den Vogel, aber sie hätten auch verstanden, meint Flade, warum dieser Vogel sie verbindet. Wenn wir im Norden die Moore nicht schützen, wachsen im Süden die Wüsten.