: Hinter den Kuppenbergen
SCHÖPFUNG Die Vögel tirilieren, die Hasen hoppeln, und gemäht wird später, damit kein Tier gestört wird. Wie im brandenburgischen Ökodorf Brodowin Landwirtschaft und Naturschutz eine glückliche Verbindung eingehen
■ Der Ort: Brodowin liegt beim Kloster Chorin, 60 Kilometer von Berlin entfernt. Das Ökodorf Brodowin e.V. wurde 1991 gegründet, die landwirtschaftlich genutzte Fläche ist 1.240 Hektar groß. Es gibt viele Seen in der Nähe. Jeden Sommer findet ein Hoffest statt.
■ Der Betrieb: In Brodowin wird Gemüse angebaut und Ackerbau betrieben, es gibt Kühe, Ziegen und Hühner, einen Hofladen und eine Schaumolkerei. Wer möchte, kann sich die Bioprodukte nach Hause liefern lassen.
■ Die Vögel: 113 Vogelarten gibt es in Brodowin, eine einmalige Vielfalt in Deutschland. Wer mehr erfahren möchte, wann sich wo welche Vögel in Deutschland aufhalten, kann das online tun – auf www.ornitho.de.
AUS BRODOWIN ANSELM WEIDNER
Solche Natur: hügeliges Land, Felder, Wiesen, Wälder, flache Seen, kreisrunde Teiche in Äckern. Breit sind die Ufer-, Feld- und Wiesensäume, die Hecken entlang der Feldwege. Sibirische Glockenblume und Natternkopf-Habichtskraut blühen auf den Trockenrasen der Drumlins, Kuppenberge, die typisch sind für die Gegend. Vogelkonzerte hört man hier wie vor hundert, zweihundert Jahren auf dem Lande. Was in der Gemarkung Brodowin mit ihren vielgestaltigen Biotopen noch – oder besser: wieder – lebt, wächst, kreucht, summt, quakt, fliegt und singt, ist so enorm, so vielfältig, anrührend schön, dass man es nach Kräften schützen und bewahren möchte und deshalb den Namen des Ortes wie ein Geheimnis hüten sollte.
Aber nun ist er doch verraten. Brodowin, ein Dorf in Brandenburg, 60 Kilometer nordöstlich von Berlin, 20 Kilometer vor der polnischen Grenze.
Warum hüte ich das Geheimnis nicht, schreibe darüber? Weil der Zauber dieser Agrikulturlandschaft menschengemacht ist, erdacht, erforscht, erarbeitet über mehr als zwanzig Jahre. Und dieser Zauber beruht auf der „Brodowiner Formel“, von der dringend zu berichten ist. Denn in ihr steckt große Hoffnung. Das ist die steile These dieser Reportage: Würde diese Zauberformel – ein nüchternes Rechenwerk – republikweit angewandt, dann sähe unser Land, zumindest die landwirtschaftlich genutzte Fläche, und das sind immerhin 54 Prozent der Gesamtfläche der Bundesrepublik, ganz anders aus. An die Stelle der industriellen Landwirtschaft träte eine moderne Agrikultur, die diesen Namen verdiente, technisch auf neuestem Stand, aber gesund für Mensch und Natur, nachhaltig, die Schöpfung bewahrend.
Genug der großen Worte, hinein ins Geheimnis Brodowins, an meiner Seite Martin Flade. Er lebt in Brodowin am südlichen Rand des Biospährenreservats Schorfheide-Chorin. Im brandenburgischen Umweltlandesamt ist der Landschaftsökologe und Ornithologe für die Großschutzgebiete zuständig. Eine Frage treibt ihn seit Langem um: Wie ist mehr intakte Natur auf Agrarflächen möglich? Das Laboratorium für diese Frage ist in den letzten 15 Jahren Brodowin geworden. Flade hat großen Anteil am, so pathetisch es klingt, „Wunder von Brodowin“, weil er hartnäckig war, beobachtete, nachfragte. Könnte man nicht? Warum versuchen wir es nicht so?
Anfang Mai trafen wir uns, spätes Frühjahr, weil es besonders viel verrät darüber, was Brodowin ausmacht. Wir standen auf dem Großen Rummelsberg, einem der Drumlins. Flade lässt den Blick kreisen: „Da in der Kiefer ein Neuntöter, und hörst Du aus dem Weißdornbusch dort das ‚trrt, trrt‘ und ‚tak, tak‘ der Sperbergrasmücke? Sehr selten geworden!“ Im Hintergrund, durchdringend hell, zwei Pirole, „oriolo, oriolo-io“.
Anders als jetzt, in diesem langen Winter, war das Land grün, glitzerte das Wasser der Seen im Sonnenlicht. Die gefährdeten Langstrecken-, die Transsaharazieher waren gerade aus Afrika zurück. Auf den zwölfhundert Hektar von Brodowin gibt es mehr Grauammern als in ganz Niedersachsen, Flade zählt seit Mitte der neunziger Jahre die Vogelbestände. Ein Schwarzstorch fliegt auf. Wenn sie den Waldbach unten nicht aufgestaut hätten, gäbe es keinen Feuchtwald, in dem der Storch brüten könnte. Man hört Kraniche, Kolkraben, viele Graugänse sind unterwegs, Flussseeschwalben, ein Grünspecht fliegt in weiten Schwüngen vorbei. Allein drei Adlerarten – See-, Fisch- und Schreiadler – kommen in dieser Gegend wieder vor, 113 der etwa 265 Brutvogelarten in Deutschland brüten in der Gemarkung Brodowin – eine hierzulande einmalige Vogelvielfalt auf 1.240 Hektar. Ornithologen aus ganz Europa kommen nach Brodowin, Flade strahlt vor Glück. Vogelvielfalt ist der wissenschaftlich anerkannte Indikator für Artenvielfalt, für Intaktheit von Natur. Demnach dürfte das hier die intakteste Agrarlandschaft Deutschlands sein.
Am Ortseingang von Brodowin steht ein Glaskubus mit Holzdach, die gläserne Meierei, nicht weit davon ein riesiger Rinderstall aus Holz für 185 Milchkühe, die frei im Stroh bedeckten Stall laufen, nicht in Boxen eingepfercht sind, dahinter ein Stall für 120 Ziegen, Gewächshäuser und Schuppen für modernstes landwirtschaftliches Gerät; auf dem Gelände laufen Hühner frei herum; an der Straße verkauft ein Hofladen an die tausend eigene Produkte. Milch, Mozarella, Sonnenblumkern- und Leinöl, Ziegenfrischkäse, Lauch, Pastinaken, Rote Beete, Säfte. Vielfalt, Regionalität, eine nachhaltige, möglichst naturnahe Lebensmittelproduktion, die betriebsnah vermarktet wird – der Gang über den Naturschutzhof Ökodorf Brodowin macht anschaulich, was das praktisch heißt.
Eine ganz andere als die herkömmliche industrielle Landwirtschaft ist möglich, daran wird im Ökodorf Brodowin seit 22 Jahren gearbeitet. Ohne diesen landwirtschaftlichen Betrieb gäbe es die Kulturlandschaft drumherum nicht.
In einer neuen Zeit
Im Jahr 1990, im Jahr der Auflösung der DDR, entschlossen sich Mitglieder der LPG „8. Mai“, Pioniere der großflächigen ökologischen Landwirtschaft zu werden. LPG steht für Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, die vorherrschende Form verstaatlichter Landwirtschaft in der DDR. Auf den reprivatisierten 1.240 Hektar wurde von da an nach den strengen Regeln des ökologischen und biodynamischen Landbaus gewirtschaftet. Ohne Herbizide, Fungizide, Pestizide und mineralische Dünger, ohne all die Chemiekeulen der industriellen Landwirtschaft. Die Bodenfruchtbarkeit wird seither durch Kompost, Mist und vielfältige Fruchtfolgen erhalten, das Vieh durch eigenes Feldfutter ernährt, eine Mischung aus Klee und Gras. Alle Produkte – Getreide, Gemüse, Milch oder Fleisch – sind Teil eines natürlichen Kreislaufs. „Das ist Faktor eins für den Erfolg des Experiments“, sagt Flade. Dem steht eine gängige Vorstellung entgegen: Mehr Natur ist in der Landwirtschaft doch nicht möglich. Brodowin zeigt: Doch, ist es.
Inzwischen sind wir am Parsteinsee angekommen, dem größten der sieben Seen rund um Brodowin. Flade kommt zu Faktor zwei. Über Vögel, die am Boden brüten, kam er darauf. Manche Felder sind besonders beliebt bei ihnen, die sind auch für Hasen und Schmetterlinge attraktiv. Für sie alle kann auch der ökologische Landbau bedrohlich werden, etwa wenn Vögel in den Kleefeldern brüten, und diese gemäht werden, solange die Vögel noch nicht flügge sind. „Dann bleiben auch im Ökolandbau nicht nur Gelege und Küken von Wachteln, Braunkehlchen und anderen Bodenbrütern, sondern auch Käfer, Schnecken, Frösche und Unken auf der Strecke“, sagt Flade. Er sprach mit dem für den Feldbau zuständigen Bauern, sagte ihm, dass es in der Landwirtschaft doch auch um Landschaftspflege gehen müsse. Hecken zurückschneiden, Kopfweiden pflegen, Trockenrasen von Gehölzen befreien, „unbedingt notwendiger Naturschutz“. Doch der Ökolandwirt sagte: „So was machen wir nicht, das rechnet sich nicht für uns.“ Es gibt auch in der ökologischen Landwirtschaft erhebliche Konflikte zwischen landwirtschaftlichem Betrieb und Naturschutz, sagt Flade. Die wollte er lösen und kam so auf Faktor zwei für Brodowin: Ökolandwirtschaft ist die Basis, zusätzlich muss der Naturschutz im Ökolandbau optimiert werden.
Dass sie damit weit gekommen sind in Brodowin, sieht man auch jetzt, wo das Land unter einer tiefen Schneedecke liegt, in diesem späten, langen Winter. Es ist Agrarland, aber es sieht anders aus. Hecken und Säume ziehen sich an Wiesen und Feldern entlang, das Land ist kleinteiliger als in der konventionellen Landwirtschaft.
Im etwas höher gelegenen Ortsteil Weißensee steht Ludolf von Maltzan, hinter ihm der Flachbau der Hofverwaltung, der noch aus alten LPG-Zeiten stammt. Von Maltzan ist studierter Landwirt, der Haupteigentümer und Geschäftsführer des Demeterhofs Brodowin. Er kam vor sieben Jahren, da gehörte Naturschutzarbeit schon zum Alltag in Brodowin, von Maltzan hat sich darauf eingelassen, auch wenn der Landwirt, der den Boden nutzen will, der den Ertrag braucht, skeptisch war: „Viel haben wir geschafft, aber alle Blütenträume der Naturschützer können hier auch nicht reifen.“ Ganz am Anfang, als er neu war, ging es ihm auf die Nerven, sagt er, wenn die Naturschützer dauernd kamen und kontrollierten, ob und wie die verabredeten Naturschutzmaßnahmen umgesetzt wurden. „Das kostet ja auch alles Geld, aber letztlich nützt es dem Erfolg der Marke Ökodorf Brodowin.“ Längst ist von Maltzan davon überzeugt, dass der diversifizierten Landwirtschaft die Zukunft gehört – und lobt die Vielfalt an Ackerbeikräutern – früher Unkraut –, Insekten und Vögeln auf seinen Feldern.
Die große Frage
Ende der neunziger Jahre wurde Brodowin zum Forschungsobjekt. Wie kann, wissenschaftlich fundiert, so viel Naturschutz wie möglich und betriebswirtschaftlich vertretbar in die ökologische Landwirtschaft integriert werden? Landschaftsökologen, Biologen, Agroökonomen und Landwirte gingen der Frage nach, ihr Arbeitstitel: „Naturschutzfachliche Optimierung des großflächigen modernen ökologischen Landbaus am Beispiel des Demeterhofs Brodowin“, ein auf fünf Jahre angelegtes „Erprobungs- und Entwicklungsvorhaben“ vom Bundesamt für Naturschutz, finanziert vom Bundesumweltministerium. Sperrig, aber wichtig: Wie geht zukunftsweisende Landwirtschaft?
Am Ende der Forschung stand ein Katalog voller Vorschläge: veränderte Mahdzeiten und Schnitthöhen – damit die Tiere nicht gestört werden; Drilllücken, also Platz zwischen den Saatreihen – gut für Feldhasen und Vögel; Kleegras- und Blühstreifen, Verkleinerung der Feldgrößen, Hecken, Wiesensäume, Gewässerrandstreifen und Gehölzentfernung am Rand von Laichgewässern für seltene Amphibien. Kurz: Artenschutz durch Lebensraumverbesserung.
Bald wurden in Brodowin 2.400 Meter Hecken und 6.000 Meter Säume neu angelegt. Wie die Naturschutzmaßnahmen Teil des Betriebs des Ökohofs werden, ist eingespielt: Im Winter treffen sich die Naturschützer in der Verwaltung des Biosphärenreservats Schorfheide-Chorin in Angermünde und beraten den Naturschutzplan. „Feld für Feld und Weide für Weide wird jede Maßnahme beschlossen und in eine Karte eingetragen. Das dauert nur noch vier bis sechs Stunden, das läuft wirklich gut“, sagt Flade. Dass stets offen alles besprochen wird, ist mit entscheidend für den Erfolg des Projekts, darin sind sich der Naturschützer und der Landwirt einig: Faktor drei. Faktor vier schließlich hat mit Geld zu tun: Flade sagt: „Von Anfang an waren Agrarwissenschaftler und Landwirte dabei. Was heißt es etwa für die Erntemenge, für die Qualität und für den Arbeitsablauf, wenn etwa Schnittzeitpunkte verlagert werden? Das wird berechnet, auf Euro und Cent.“ Deshalb kam es nie zu grundsätzlichen ideologischen Streitigkeiten zwischen Naturschützern und Landwirten, „weil immer klar war: Am Ende liegt alles auf dem Tisch. Das war sehr entspannend.“
Ein Handbuch „Naturschutz im Ökolandbau“ ist das praktische Resümee der Forschungen dieses Brodowiner Feldexperiments. Es liegt inzwischen in zweiter Auflage und auf Englisch und Tschechisch vor. Mit zwanzig Naturschutzmaßnahmen, die ausreichen, den Ökolandbau zu revolutionieren.
Damals, im Mai, standen wir auf einem hügeligen Kleegrasfeld in Brodowin. Feldlerchen tirilierten über uns in immer wieder neuen, endlos scheinenden Strophen. Martin Flade zeigte in den blauen Frühlingshimmel: „Da vorne steigt eine hoch, hier steigt eine hoch, hier fliegt ein Paar, da is ’n Männchen, hier oben fliegt eine, da oben singt eine, denen geht’s ums Ganze, ums Weibchen und ums Revier!“ Ein Kreiselmäher rauschte mit seinen 360 PS und 21 Mähscheiben über den Acker, säbelte in wenigen Minuten mehrere Hektar Kleegras ab – aber eben spät und hoch genug, so dass die Gelege und Küken der Bodenbrüter geschont werden. „Schon toll hier“, sagt mein Vogelfreund, aber in die Begeisterung mischt sich Unzufriedenheit: „Was wir erreicht haben, ist vorzeigbar. Aber viel mehr wäre möglich.“ Denn ob tatsächlich Schnittzeitpunkte im Kleegras verschoben und Schnitthöhen verändert werden, ob mit Drilllücken gesät wird und wie viel Grünland zu Ackerland umgebrochen wird, bleibt dem Landwirt überlassen. Das macht der freiwillig oder er macht es eben nicht, klagt Flade. Ökolandwirt von Maltzan hält dagegen: „Ich nehme meine Verantwortung schon wahr“, aber Drilllücken bräuchten sie auf den kargen Äckern nicht, verspätete Schnitte seien oft zu teuer, weil dann das Futter nicht mehr die nötige Qualität habe. Von Maltzan sagt: „Ich weiß, wo die Bodenbrüter geschützt werden müssen, und da halte ich mich dann auch an die Empfehlungen.“ Generelle Vereinbarungen für den Kleegrasschnitt seien ihm zu pauschal, Grünland müsse umgebrochen werden, allein schon um für die nächsten Jahre wieder eine gesunde Grasnarbe zu haben. Und schließlich sei er in erster Linie Landwirt und verantwortlich für gute Erträge. Trotz aller Ausgleichszahlungen für Naturschutzmaßnahmen: Es muss sich rechnen und Lebensmittel sollen möglichst natürlich produziert werden – das bleibt wohl ein Gegensatz.
Aber der Naturschutzhof Ökodorf Brodowin und die Vogelkonzerte dort beweisen: Es geht anders, viel mehr intakte Natur auf den Agrarflächen, ja, eine Landwirtschaft nach den Regeln der Natur ist möglich. Inzwischen haben andere Ökolandbetriebe ihre Produktion nach der Brodowiner Formel umgestellt. Lebensmittelkonzerne planen mit dem Landwirtschaftsministerium Mecklenburg-Vorpommern und dem WWF eine neue Marke. „Bio Plus“, Ökolandbau plus Naturschutz. Erdacht in Brodowin.
■ Anselm Weidner, 69, ist Journalist und Vogelnarr seit der Kindheit
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen