piwik no script img

Der Kronzeuge des Schreckens

Wo er herkommt herrscht seit Jahren Krieg: Musa Sadulajew hält den Alltag aus Gewalt in Tschetschenien in Bildern fest. Wegen seiner Arbeit wird der Fotograf dort verfolgt. Als Gast der Stiftung für politisch Verfolgte erholt er sich in Hamburg

„Ich bin nur Zeuge und halte im Bild fest, was die Politik verantwortet“ „Das Schlimmste am Krieg ist die Ruhe, weil du nicht weißt, wo der Feind ist“

von Eva Weikert

Es waren die „intakten Bürgersteige“, die Musa Sadulajew anfangs immer wieder aufgefallen sind. Denn dort, wo er herkommt, liegen die Straßen unter Trümmern. Sadulajew ist Tschetschene, und seine Heimat heißt Grosny. Nach elf Jahren Krieg ist die Hauptstadt der abtrünnigen russischen Kaukasusrepublik zu 80 Prozent zerstört. Er werde in Hamburg vor allem Häuser, Gehwege und Radfahrer fotografieren, sagt der 37-Jährige Fotoreporter, um nach seiner Rückkehr seinen Landsleuten zu zeigen, „wie Menschen leben können“.

Sadulajew sitzt im Wohnzimmer einer Dreizimmerwohnung in einem Hamburger Klinkerbau. Er serviert Kekse und Kaffee, eingekauft auf der Eimsbüttler Osterstraße gleich um die Ecke. Sein Sohn Adam ist noch in der Schule. Der Zehnjährige ist im Herbst mit seinem Vater hierher gekommen, den die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte eingeladen hat. Ein ganzes Jahr können sich Sadulajew und sein Sohn in Hamburg von Krieg und Verfolgung erholen. Weil er in Tschetschenien ein bekannter Fotograf ist, der die Taten der Russen dokumentiert und seine Bilder an westliche Medien verkauft, ist Sadulajew zu Hause seines Lebens nicht sicher.

Mehr als 1.000 Fotos hat der Reporter nach Hamburg mitgebracht. In Weimar hat er kürzlich seine erste Ausstellung eröffnet, weitere in anderen Städten sollen folgen. Tote, deren Spuren und Überreste, weinende Frauen, die Bilder ihrer vermissten Töchter, Söhne und Gatten vor der Brust halten, zerstörte Autos in zerstörten Straßen vor zerstörten Häuser – das sind die Motive, die Sadulajew wählt. Und immer wieder Kinder und Jugendliche in Szenen, die zeigen, dass der Krieg in Tschetschenien längst Alltag geworden ist: Mädchen und Jungen, die auf Panzern herumturnen, mit dem Torso einer Rakete spielen, Kinder, denen Arme oder Beine fehlen und die mit Prothesen am Sportunterricht teilnehmen. „Es gibt in Tschetschenien nichts Schönes mehr“, sagt der Fotograf, „darum mache ich keine schönen Bilder.“

Adam kennt keine der Aufnahmen seines Vaters. Sadulajew will das so. „Adam hat den Krieg nie gesehen“, sagt er und erklärt, dass seine Frau mit einer weiteren gemeinsamen Tochter in einer Kleinstadt im Grenzgebiet zum benachbarten Inguschetien lebe. Dort sei es „viel ungefährlicher“ als in Grosny: „Es gibt nur sehr selten Schießereien.“

Nach inoffiziellen Schätzungen kostete der Tschetschenienkonflikt seit 1994 etwa 70.000 Zivilisten und mindestens 12.000 Soldaten das Leben. Sadulajew sagt, unter den Opfer seien bis zu 40.000 Kinder. Ein Ende des Schreckens ist nicht absehbar: Der Partisanenkrieg um Unabhängigkeit von Moskau dauert an. Menschenrechtsorganisationen beklagen, die staatlichen russischen Sicherheitskräfte hielten grundlegende Bürger- und Menschenrechte nicht ein. Zehntausende Flüchtlinge scheuen aus Angst vor andauernder Gewalt, willkürlichen Festnahmen, Folter und Vergewaltigung eine Rückkehr in ihre Heimat und leben in Lagern in den Nachbarrepubliken.

In einem Flüchtlingslager in Inguschetien hat auch Sadulajew vorübergehend Schutz gesucht. Zahlreiche seiner nach Hamburg mitgebrachten Bilder erzählen von dieser Zeit. Sie zeigen Frauen beim Kochen oder Kinder bei Spielen in der Siedlung aus Zelten aus brauner Plane mit Fenstern aus Folie.

Die ersten Fotos, die Sadulajew zu Beginn seiner Karriere als 21-Jähriger machte, sind schlichter: Auftragsarbeiten, die politischer Propaganda dienen. Nachdem er zunächst für die Regionalzeitung Der Weg des Kommunismus Artikel geschrieben hat, kann er sich 1989 seinen eigentlichen Berufswunsch erfüllen und auf eine Fotografenstelle bei dem Blatt wechseln. Einer seiner ersten Aufträge sei der Festzug zum 1. Mai gewesen, erinnert er sich. Eine Ausbildung habe er nie genossen.

Der Zerfall der Sowjetunion 1991 ändert alles: Durch die Umstellung des Wirtschaftssystems stürzen die Nachfolgestaaten in die Inflation, Löhne werden nicht mehr ausgezahlt, Sadulajew hält sich mit Porträtfotografie über Wasser. Als 1994 der erste Tschetschenienkrieg ausbricht, schaut plötzlich die Welt auf die kleine Teilrepublik. Über eine schwedische Journalistin nimmt Sadulajew Kontakt zur US-amerikanischen Presseagentur AP auf, für die er bis heute arbeitet.

Sadulajew fotografierte auch in Beslan. Um die Welt gegangen ist sein Foto von einer blutigen Frauenhand, deren Finger ein Kreuz an einer Kette umschließen. Eine Ausstellung in Grosny mit Sadulajews Bildern von der Geiselnahme in Nordossetien, bei der im September 2004 militante Tschetschenen eine Schule stürmten und mehr als 400 Menschen starben, musste kurz nach ihrer Eröffnung wieder aufgelöst werden. „Die Reaktionen der Besucher waren zu heftig, das Thema war zu umstritten“, sagt der Fotograf.

Nach dem Drama in Beslan seien alle Tschetschenen bis weit über Russland hinaus unter den Generalverdacht geraten, „das sind Terroristen“, so Sadulajew: „Aber was ist der Unterschied zwischen den Tätern von Beslan und den Russen, die bei uns töten?“

In Hamburg schläft Sadulajew erstmals seit 1999, als Moskau seinen zweiten Tschetschenienfeldzug begann, nachts nicht mehr in Straßenkleidung und regelmäßig im selben Bett. Ständig die Unterkunft zu wechseln und sich nachts nicht mehr auszukleiden, hatte er sich angewöhnt, als russische Militärs immer häufiger Zivilisten nachts einfach aus dem Bett holten. Mehrmals wurde auch Sadulajew mitgenommen, jedoch immer wieder auf freien Fuß gesetzt. Anders als zwei seiner Neffen, die bis heute vermisst sind.

Trotz solcher Erfahrungen sieht sich Sadulajew als „völlig unpolitischen Menschen“. Er halte nur fest, „was die Politik verantwortet“. Weil er „nicht teilhaben“ wolle am Krieg, fotografiere er keine Kampfhandlungen. Er selbst hat bisher weder Verletzungen davon getragen noch Folter erlebt. „Ich bin nur Zeuge“, so der Reporter. Kein Bild, das er mache, sei ein Menschenleben wert.

Vom Rande den Terror und den Krieg zu beobachten aber gelingt Sadulajew nicht immer. Am 9. Mai 2004 starb ein Kollege der Agentur Reuters in seinen Armen, als bei einer öffentlichen Feier zum „Tag des Sieges“ eine Bombe im Stadion von Grosny die Präsidententribüne zerfetzte. Mindestens sieben Tote waren zu beklagen, darunter Tschetscheniens damaliger russlandtreuer Präsident Achmed Kadyrow und der Attentäter.

Nach dem Anschlag sei er „krank“ geworden, sagt Sadulajew, habe an „Konfusion“, Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen gelitten. In Hamburg merke er jetzt, wie schwer erträglich ihm die Ruhe hier sei. „Das Schlimmste am Krieg ist ja die Ruhe“, sagt er, „denn dann weißt du nicht, wo der Feind ist.“ Das Wort Trauma benutzt er nicht.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen