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Kolonien und Theaterkonkurse

Von der Veredelung des Seelenlebens bis zu nationalsozialistischem Neokolonialismus: Das Jahrbuch des Bremer Staatsarchivs ist ein großartiges Kompendium zur Gedächtnispflege der Stadt

Bremen taz ■ Die Kulturdeputation rügt das Ensemble des Schauspielhauses wegen mäßiger Leistungen auf der Bühne. Ein unerhörter Vorgang, der freilich auch schon neunzig Jahre her ist. Heute stünde dem nicht nur die gesetzliche Absicherung künstlerischer Autonomie im Weg, sondern auch die schlichte Voraussetzung, dass die PolitikerInnen zwecks Urteilsbildung in die Vorstellungen gehen müssten.

Das aktuelle „Jahrbuch“ des Bremer Staatsarchivs steckt voller solcher – sozusagen am Rand zu gewinnender – Erkenntnisse. Das persönliche Engagement der Kulturpolitiker etwa ist aus einem Aufsatz herauszulesen, der sich mit der „Veredelung des Seelenlebens auch der unteren Stände“ befasst: in Gestalt der ab 1898 veranstalteten Theatervorstellungen für Volksschüler. Selbstverständlich standen bei dieser aufklärerischen Mission nicht nur die ästhetische Qualität der Darbietung unter strenger Kontrolle, sondern auch die moralische Eignung der Stoffe selbst. So befand die Unterrichtskommission, dass Shakespeares „Giulio Cesare“ „für Mädchen kaum geeignet“ sei, stattdessen wurden sie in „Die Jungfrau von Orleans“ geschickt.

Soviel zur damaligen Theaterpädagogik. Andere Themen des umfangreichen Bandes sind „Bremens Handel mit Shanghai“ oder, anlässlich des erfolgreichen Unesco-Weltkulturerbe-Antrags, der Roland. Das eigentlich Interessante an diesem Buch aber ist das von ihm vermittelte Gefühl von Wohlverwahrtheit: Nichts geht verloren.

Zwischen den stabilen Deckeln scheint sich mehr oder weniger alles Wesentliche zu befinden, was im vergangenen Jahr in Bremen und Umzu beforscht wurde: Von der Boots-Typologie der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger bis zur Erwerbs- und Rückgabegeschichte von Büchern jüdischer Eigentümer.

Die eigentlich Fundgrube des Bandes besteht nämlich aus über drei Dutzend Rezensionen anderer Publikationen, die kürzlich zur Stadtgeschichte erschienen sind. Klar wird: Die regionalhistorische Szene, die hier ihr Forum hat, ist hochaktiv – und schenkt sich im Zweifelsfall nichts.

Da gibt es auch mal einen fundierten Veriss der neuen Gesamtausgabe des Bremer Straßenlexikons, der “zahlreiche Fehler“ nachzuweisen seien. Der Lektüregewinn für Laien: In dem ein akribisch recherchiertes Schlaglicht geworfen wird, rückt ein relevanter Bremer Geschichtsteil ins Gesichtsfeld. Bettina Schleier etwa schreibt über die Bemühungen von Carl Adolf Lüderitz, in den 30er Jahren als Geschäftsführer einer „Staatlichen Forschungsstelle für Kolonialwirtschaft“ Karriere zu machen.

Hintergrund ist die Stilisierung Bremens als „Stadt der Kolonien“, wofür die Nationalsozialisten „insbesondere die Handelskammer“ begeistern konnten, wie Schleier schreibt.

Die Kammer unterstützte dabei gerne auch die Forderung nach Rückgabe ehemaliger Kolonien ans Deutsche Reich: Vor allem in „Deutsch-Südwest-Afrika“ hatten Teile der Bremer Kaufmannschaft umfangreiche Besitzungen. Teil der propagandistischen Bemühungen war dabei unter anderem die Umbenennung des Städtischen Museums für Natur-, Völker- und Handelskunde 1935 in „Deutsches Kolonial- und Übersee-Museum“.

Henning Bleyl

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