Tiefer gelegte Gesellschaft

Ob organische, psychische oder soziale Systeme, ob Personen oder Organisationen: Alles Gesellschaftliche ist nichts anderes als eine Form von Kommunikation. In seinem neuen Buch führt der Systemtheoretiker Dirk Baecker alle Formen der Gesellschaft auf ein einfaches Kalkül zurück

Erst die Selektion führt zur Form: Jeder Satz aus dieser Rezension könnte auch aus anderen Wörtern gebildet werdenDie Erkenntnis, dass jede Form kontingent ist, ist ein gutes Antidot gegen Fatalismen jeder Art

VON NIELS WERBER

Sind Sie in Form? Nein? Nun, auch schlechte Form ist eine Form. Aber sie könnte besser werden. Oder schlechter. Jede Form könnte auch anders aussehen. Nicht nur die eigene Kondition, alles, was überhaupt formbar ist, kann immer auch anders geformt werden.

Dies gilt für Knetfiguren, aus denen man Männchen oder Schlangen formen kann, für Körper, deren Figur man modelliert oder plastisch verändert, für die Reaktionsgeschwindigkeit des Bewusstseins von Piloten oder Ego-Shootern, für die flache oder steile Hierarchie in Behörden oder Unternehmen oder für den höflichen oder intimen Verlauf von Unterhaltungen unter vier Augen. Jedes Gespräch könnte eine andere Form annehmen und anders verlaufen, man muss nur andere Formulierungen wählen oder eine andere Tonlage. Ob man nun mit Materie, organischen, psychischen oder sozialen Systemen, mit Personen oder Organisationen zu tun hat – nichts, was man tut, steht in Verlauf und Ergebnis „von Natur aus“ fest, alles lässt sich so oder so „in Form“ bringen.

Wenn man also davon spricht, etwas habe eine Form, dann impliziert dies immer schon, dass auch andere Formen denkbar wären. Dies gilt für Kuchen, die Kinder im Sandkasten formen, genauso wie für so weit reichende Gebilde wie die „westliche Kultur“, denn sowohl Sandkuchen als auch Kulturen können andere Gestalt haben als die, deren Form wir gerade auf diesem Spielplatz oder in dieser Weltregion beobachten.

Jede Form – von der Form des Festtagsgeschirrs und der passenden Garderobe bis zur Formulierung eines Geburtstagsgrußes (eine E-Mail, eine SMS oder eine Karte?) – kommt immer nur als „Selektion“ aus einem „Auswahlbereich“ zustande. Der Bereich, aus dem selektiert wird, kann aus Zutaten oder Worten, Kleidern oder Waren bestehen, gemeinsam ist ihnen, dass sie Elemente bilden, die erst noch ausgesucht und kombiniert werden müssen, bevor sie Sinn machen. Die Gesamtsumme aller deutschen Wörter ist noch kein vernünftiger Satz, ein Haufen Gemüse und Gewürze noch keine Minestrone oder Eintopf und ein Warenlager von Modeartikeln noch kein elegantes Ensemble. Erst die Selektion führt zur Form.

Den Bereich, aus dem bestimmte Kombinationen von Elementen ausgewählt werden und andere nicht, nennt der Systemtheoretiker Dirk Baecker im Anschluss an Niklas Luhmann „Medium“; die konkrete, also selektive Kopplung von Elementen dieses Mediums definiert er als „Form“. Das Medium bildet gleichsam einen Pool von Optionen. Für jeden Satz dieser Rezension gilt die Beobachtung, dass aus dem Angebot von Wörtern auch andere Sätze gebildet werden könnten. Jeder Satz ist eine Form des Mediums der deutschen Sprache, und offenbar ist gerade eine Entscheidung gefallen, den Satz parataktisch statt hypotaktisch fortzusetzen.

Aber warum? Warum solch ein selbstreferenzielles Beispiel, und wieso gerade so formuliert? Wenn Form Selektion aus einem Auswahlbereich ist, dann ist ganz offensichtlich die entscheidende Frage, wie es zu einer bestimmten Form kommt und zu keiner möglichen anderen. Warum so entscheiden und nicht anders? Warum Salz und nicht Pfeffer, warum Fliege statt Krawatte?

Es geht in allen diesen Fällen, wie Baecker formuliert, um die „Konditionierung von Freiheitsgraden“ auf beiden Seiten, der der Form und der ihres Mediums. Dies ist aber immer schon geschehen, wenn man Formen beobachtet, denn die Entscheidung für etwas Bestimmtes und gegen vieles Unbestimmtes ist immer schon gefallen. Zum Smoking passt die Fliege eben doch am besten, und was man sonst alles noch hätte anziehen können, verbleibt in einem Bereich des Möglichen, dessen Konditionen darüber entscheiden, was überhaupt ausgewählt werden kann.

Ist überhaupt ein Smoking vorhanden? Formentscheidungen werden in ihrer Freiheit immer schon dadurch limitiert, dass das Medium zwar Auswahl erlaubt, aber nur Auswahl aus einem immer nur beschränkten Bereich, sei dies nun ein Kleiderschrank oder ein Thesaurus.

Dirk Baecker unternimmt in seinem Buch „Form und Formen der Kommunikation“ den Versuch, die systemtheoretische Soziologie in allen ihren Facetten mit dem Algorithmus der Medium-Form-Unterscheidung zu reformulieren. Jeder, der die Komplexität der Systemtheorie und ihrer kybernetischen, konstruktivistischen, kommunikations- und evolutionstheoretischen, neuro-, kultur- und medienwissenschaftlichen oder organisationssoziologischen Verästelungen kennt, wird dies zu schätzen wissen. Die meisten dieser Paradigmen, aber auch die Informationstheorie Shannons oder die Mathematik Spencer Browns, kommen in Dirk Baeckers Text vor, und das kann nur heißen: ihre Probleme, Begriffe oder Konzepte werden systemtheoretisch reformuliert, was nicht nur die Leistungsfähigkeit des Formkalküls belegt, sondern auch zur kritischen Lektüre aus der Sicht dieser Paradigmen einlädt.

Bei alldem geht es aber stets um nichts weniger als eine Formel von so großer Allgemeinheit, dass „sie noch nicht einmal einen Zustand der Welt voraussetzt, sondern nur nach einem Typ von Operationen fragt, der geeignet ist, eine Welt hervorzubringen“. Die Form der Form, die Baecker benutzt (es sind andere Formen denkbar!), dient zur Reformulierung zentraler Begriffe der Systemtheorie wie Kommunikation, Gesellschaft, Interaktion, Kultur, Massenmedien, System, Person, Identität, Evolution oder Verbreitungs- und Erfolgsmedium. Jeder dieser Begriffe wird als Form verstanden, also als bestimmte Selektion aus einem bestimmbaren Auswahlbereich.

Aber warum sollte man überhaupt auswählen? Dass Dirk Baecker davon ausgeht, dass die „Selektivität“ bereits zur Kommunikation (zur Formbildung, zur Auswahl) motiviert, wie er mehrfach anführt, scheint mir von seinem Formkalkül nicht mehr miterklärt zu werden, sondern auf anthropologische Restbestände zu deuten, auf die Neugierde, unbekannte Möglichkeiten zu erproben. „Wir lassen uns auf die Sprache ein“, heißt es beispielsweise, „um herauszufinden, was sie leistet, und weil wir genau dies nicht wissen.“ Das Nichtwissen motiviert wie bei „Star Trek“ zur Erkundung. Wen sollte der „unbestimmte Raum ihrer Möglichkeiten“ reizen, wenn nicht uns, die Menschen? Oder sollte das Kalkül gar selbst neugierig sein?

Wie Luhmann hält auch Baecker die Kommunikation für die elementare Einheit der Gesellschaft. Ist die Kommunikation einmal als Form verstanden, lässt sich die Gesellschaft in all ihrer Komplexität – vom Gespräch unter Anwesenden bis zur kafkaeskesten Bürokratie – als Funktion dieser Operation abbilden. Der Kalkül der Form bringt also tatsächlich „eine Welt hervor“, nämlich unsere Gesellschaft, wenn man denn mit der Systemtheorie davon ausgehen will, dass ihre Form die der Kommunikation ist.

Die Gesellschaftstheorie, so könnte man formulieren, wird von Baecker tiefer gelegt und auf eine Grundlage mit wenigen Axiomen und Operatoren gestellt. Dass es Baecker gelingt, dies mit zum Teil verblüffend einfachen und evidenten Beispielen vorzuführen, macht das Buch für alle, die an Form Interesse haben, lesenswert. Darüber hinaus ist die Erkenntnis, dass jede Form kontingent ist, ein gutes Antidot gegen Fatalismen jeder Art.

Dirk Baecker: „Form und Formen der Kommunikation“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005, 285 Seiten, 22,80 €