„Eine Art Weimarer Republik“

DIE POSTMODERNE IN PERU Gespräch mit Gustavo Buntinx, Begründer des ambulanten „Micromuseo“ in Lima

Gustavo Buntinx, geboren in Buenos Aires, lebt in Lima, Peru. Er ist Kunsthistoriker, Kritiker, Kurator und Beründer des mobilen „Micromuseo“ in Lima. Das „Micromuseo“ unterhält eine umfangreiche Internetseite (www.micromuseo.org.pe/) mit Informationen zu Ausstellungsprojekten, Veröffentlichungen, inklusive Filmarchiv und Blog.

INTERVIEW EVA-CHRISTINA MEIER

Unter internationalen Kunstsammlern und Kuratoren gilt die Szene in Peru heute immer noch als ein gut gehütetes Geheimnis. Und das obwohl in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten peruanischer Künstler von renommierten Sammlungen wie der Guggenheim angekauft wurden. Künstler wie der in der Diaspora lebende Peruaner Fernando Bryce sind auf dem internationalen Kunstmarkt längst etabliert, doch über Lima als Ort künstlerischer Produktion ist bis heute wenig bekannt. Unsere Autorin sprach in Lima mit Gustavo Buntinx über das Phänomen der peruanischen Postmoderne.

taz: Herr Buntinx, Sie leben in Lima und betreiben dort das „Micromuseo“. Was ist das Besondere an diesem Museum? Gustavo Buntinx: Lima gehört zu den wenigen Hauptstädten Lateinamerikas, die über kein Museum für zeitgenössische Kunst verfügen. Wir nennen das „die große museale Leere“. Aber dieses Fehlen schafft auch Raum für kritisches Denken, darüber, was zeitgenössische Musealität sein kann in einem Land der Dritten Welt wie Peru. In der Vergangenheit gab es Pläne für ein prächtiges Kunstmuseum, doch davon sind wie im Falle des Museums im Parque de Barranco von Lima nur die Ruinen des ersten Bauabschnitts übrig geblieben. Mit unserem Micromuseo bestehen wir hingegen darauf, dass ein Museum nicht einfach ein Gebäude ist. Ein Museum soll eine Sammlung und ein kritisches Projekt sein, der Ort ist nicht so wichtig. Wie kommt es zu dem Namen „Micromuseo“? Micro bezeichnet das, was klein und für uns erreichbar ist. „Small ist beautiful“, aber auch lebendig. Micromuseo ist ein variables, sich wandelndes Kollektiv, das sich für die verschiedenen Projekte jeweils neu zusammensetzt. Wir haben mit einer Reihe von Interventionen Spuren im öffentlichen Raum hinterlassen und in Lima auf die Möglichkeit eines anderen Kulturverständnisses hingewiesen. Wir gehen raus, in die Viertel. Die Orte, die wir bespielen, nennen wir Paradero – Haltestelle. „Micro“ steht in Peru im Alltag üblicherweise für den Microbus, das vorrangige, urbane Fortbewegungsmittel für große Teile der Bevölkerung.

„Uns geht es nicht um akademische Anerkennung, sondern um Veränderung“

Daher also auch Ihr Motto: „Al fondo hay sitio!“ (Hinten ist noch Platz!). Genau, das ist, was die „Auffüller“ aus den Bussen rufen, wenn sich die Passagiere schon stapeln und eigentlich niemand mehr zusteigen möchte. In welchem historischen Moment taucht „Micromuseo“ in Lima auf? Noch nicht unter diesem Namen, aber als Projekt entsteht Micromuseo in den frühen Achtzigerjahren. Aus der damaligen neuen radikalen Kunstszene und den Verbindungen zum Atelier Huayco. Die künstlerischen Arbeiten thematisierten die zu beobachtenden Veränderungen, insbesondere eine massiv einsetzende Migration. Ausgelöst durch den Bürgerkrieg, die Kämpfe zwischen Militär und der maoistischen Guerilla Sendero Luminoso? Die Gruppe Huayco entstand 1980, der Bürgerkrieg beginnt da gerade erst. Huayco markiert jedoch künstlerisch wie politisch den Übergang zu einer eigenständigen Post-Modernität in Peru. Es ist das Ende einer Diktatur (1968 bis 1980) und der Beginn einer kurzen Phase der Demokratie – eine Art peruanischer „Weimarer Republik“ mit extrem hoher Inflation, verzweifelter Sinnsuche, politischem und kulturellem Extremismus und avantgardistischen Strömungen. In dieser Zeit beschloss ich, eine Art Institution zu gründen und etablierte Vorstellungen von Museen in Frage zu stellen. Mitte der Achtzigerjahre begannen wir auch, Ausstellungen in alternativen Räumen zu veranstalten. Eine dieser Ausstellungen widmeten wir der „andinen Moderne“, die in den Zwanzigerjahren von der avantgardistischen Zeitschrift Amauta propagiert wurde. Die Ausstellung fand in Villa El Salvador statt, einem bekannten Arbeiterstadtteil und einem Hauptschauplatz der Migration in Lima. Im Gegensatz zu anderen setzen wir auf die produktive Reibung verschiedener kultureller Szenen. Also eine Mischung moderner künstlerischer Sprachen mit lokaler Alltagskultur? Ein Ziel von Micromuseo ist auch die Ermächtigung des Lokalen. Wir sind gegen die Praxis eines internationalen Museums-Franchising, wie sie Guggenheim betreibt. Wir bestehen vehement auf der Bedeutung des Lokalen. Das ist kein territorialer Chauvinismus, sondern ein engagiertes Verständnis von Kultur als lebendiger, unmittelbaren Expression. Uns geht es nicht um akademische oder ökonomische Anerkennung, sondern um Veränderung. Micromuseo will nicht in die Kunstgeschichte eingehen, sondern die Geschichte selbst ändern. Das klingt sehr idealistisch. Vielleicht. So eine Strategie hat etwas Herausforderndes, birgt aber auch das Risiko einer Angleichung oder Neutralisierung. Doch dieses Risiko muss man in Kauf nehmen. Wir befinden uns heute in einer merkwürdigen Situation: Fast alles, was von der hegemonialen Kultur systematisch abgewertet, ignoriert oder unterdrückt wurde und was wir seit den Achtzigerjahren stark gemacht haben, verwandelt sich derzeit in ein Objekt der Begierde. Eine Micromuseo-Ausstellung aus dem letzten Jahr ist gerade komplett in den Besitz der Sammlung des Museums von Lima übergegangen. Wie gehen Sie mit solchen Widersprüchen um?

Man darf nicht naiv sein. Ganz egal wie ehrlich und radikal deine Geste ist, du stehst nicht außerhalb des Einflussbereiches der Macht, der Mächtigen. Man sollte sich nicht auf eine fetischisierte Position der Marginalität zurückziehen. Die ist unhaltbar. Viele glauben dennoch, es sei unvorstellbar, dass ein Phänomen wie LU.CU.MA. in die Sammlung des Museums vom Lima aufgenommen würde. Lucuma? LU.CU.MA., mehrfacher Mörder aus Iquitos, hat den größten Teil seines Lebens im Gefängnis verbracht. Durch die Hinwendung zu Gott, Kunsthandwerk und Malerei ist es ihm gelungen, seinem Leben eine Wendung zu geben. Micromuseo arbeitet mit ihm zusammen. Er ist immer noch sehr antibürgerlich. Dennoch erschien vor kurzem in der Sonntagskulturbeilage des EL Comercio, der wichtigsten Tageszeitung Perus, ein großer Artikel über die Ausstellung des Micromuseo auf der Triennale in Santiago de Chile. Und was haben sie für den Titel der Beilage ausgewählt? Die Abbildung einer Arbeit von LU.CU.MA. Die Ausstellung auf der Triennale de Chile hieß „Lo impuro y lo contaminado“ (Das Unreine und das Verschmutzte). Wofür steht der Titel? Micromuseo ist kein Museum für Kunst, wir sammeln kulturelles Material. Natürlich gehört die bildende Kunst dazu, aber aus einer entmystifizierenden Perspektive. Micromuseo ist auch mestizische Museumskunde, die verschiedene Genres ohne Hierarchie nebeneinander ausstellt. So vereinte die Ausstellung in Santiago zeitgenössische Kunstwerke mit religiös motivierten Objekten einer ländlichen, „authentischen“ Tradition. Aber auch mit dem populären Kruzifix-Kitsch made in Taiwan. In einem anderen Saal zeigten wir eine künstlerisch-fotografische Arbeit zum Thema Gewalt neben einer historisch-dokumentarischen Aufnahme einer Bauernmiliz, deren einzige Kriegsgerätschaft aus einfachsten selbst gefertigten Gewehren bestand – über ihnen kreist ein Militärhubschrauber. Eines dieser Gewehre aus Holz, Nägeln und Metallrohr haben wir in unsere Sammlung aufgenommen. Nur wenige Exemplare sind erhalten geblieben – zum einen, weil sie nach zwei, drei Schüssen nicht mehr zu gebrauchen waren und weggeworfen wurden, zum anderen hat man sie vergraben, da sie an traumatische Vorgänge erinnern. Diese „Skulptur“ wird ergänzt durch den Bericht eines Dorfbewohners aus Ayacucho. Er schildert, wie der ursprüngliche Besitzer des Gewehrs von Mitgliedern des „Sendero Luminoso“ erschlagen wurde. Ist das Thema der Gewalt eine Konstante in Peru? Gewalt markiert auf bestimmende Weise die gesamte kulturelle Produktion in Peru seit 1900. Ich selbst habe den Großteil meiner Essays in den letzten dreißig Jahren dem Verhältnis von Kunst und Gewalt, Kunst und Politik sowie Kunst und Religion gewidmet. Besonders die Achtziger- und Neunzigerjahre sind geprägt durch den Bürgerkrieg und die Diktatur Fujimoris. Das Ganze gipfelte 2000 in dem Kampf gegen die Diktatur. Zusammen mit peruanischen Künstlern wie Fernando Bryce beteiligte sich Micromuseo im „Kollektiv der Zivilgesellschaft“ an symbolischen Aktionen wie „Wasch die Fahne“ oder „Schmeiß den Müll in den Müll“. Kultur ist ein aktives und lebendiges Instrument in der politischen und sozialen Entwicklung einer Gesellschaft. Wie haben Bürgerkrieg und Ausnahmezustand das alltägliche und kulturelle Leben in Peru verändert? Das Land hat sich komplett transformiert. Der Bürgerkrieg und die Diktatur endeten mit einem Kollaps und dem Zerfall der inneren Grenzen. Die Gewalt hat ein unsagbares Trauma erzeugt. Es gab aber auch einen Heroismus des Alltäglichen und die Kenntnisnahme einer Kultur des Alltags. Auf einmal waren wir gezwungen, uns gegenseitig wahrzunehmen, sogar in dem, was uns trennt. Wir müssen lernen, die Unterschiede nicht zu unterdrücken, sondern sie produktiv zu machen. Das ist entscheidend in einem Land, das auf Verachtung gründet und von einer Kultur der Verachtung dominiert wurde.