: Wir wollen euch kämpfen sehen!
Mehr als 600 Jugendliche hat der Verein „Off Road Kids“ bereits von der Straße geholt. Nicht mit warmen Worten, sondern mit einem neuen Konzept. Es nennt sich „Herzliche Strenge“ und bedeutet Sozialarbeit nach Regeln der Leistungsgesellschaft
von MICHAEL LÜNSTROTH
Warmes Licht durchflutet die Küche an diesem Nachmittag. Die Röhren des Backofens glühen, eine ausgekratzte, orangefarbene Teigschüssel steht herum. Dazu junges Lachen, strahlende Gesichter und der Duft frisch gebackener Lebkuchenplätzchen. Eine Familienidylle? Nicht ganz, denn diese Szene spielt nicht in einem kuscheligen Einfamilienhaus, sondern in einem Kinderheim im Kurort Bad Dürrheim.
Hier hat der Verein „Off Road Kids“ vor neun Jahren seine erste Zufluchtsstätte für Straßenkinder im Alter ab zwölf Jahren eingerichtet. Und wie in jedem Jahr backen die sechs Jugendlichen gemeinsam mit ihren Betreuern Plätzchen. Für einen guten Zweck: Ein Teil des Erlöses, den der Verkauf der süßen Leckereien bringt, geht als Spende an ein Kinderheim in Rumänien.
Es sind solche Dinge, die zeigen, dass das „Off Road Kids“-Kinderheim ungewöhnlich ist. Als Markus Seidel den Verein kurz vor Weihnachten 1993 gründete, wollte der ehemalige Journalist etwas verändern. Er konnte nicht verstehen, wieso in einem reichen Land wie Deutschland Kinder auf der Straße leben müssen.
Besonders berührt hatte ihn das Schicksal der 19-jährigen Nina (Name geändert) aus Bergisch Gladbach: Ihre Mutter verließ Nina, als sie 13 war. Völlig auf sich allein gestellt, rutschte sie in die Kölner Straßenszene. Durch Alkohol und Drogen stürzte die ehemalige Gymnasiastin immer tiefer ab. Mit Betteln allein kam sie bald nicht mehr durch, begann ihren Körper zu verkaufen – für den nächsten Drogenrausch. Mit 17 brachte sie ihr erstes Kind zur Welt, mit 19 das zweite. Kurze Zeit später starb sie an einer Überdosis Heroin.
Dass hierzulande solche Tragödien überhaupt möglich sind, war Mitte der Neunzigerjahre auch für viele Politiker überraschend: Als Markus Seidel 1994 das damalige Bundesministerium für Frauen und Jugend auf das Thema Straßenkinder aufmerksam machte, hieß es von dort lapidar: „In Deutschland gibt es keine Straßenkinder.“ Die Ministerin dieses Ressorts war damals eine gewisse Angela Merkel.
Heute gibt es nach Angaben des Vereins zwischen 1.500 und 2.500 minderjährige Ausreißer, die jährlich für einige Wochen auf der Straße leben – meistens, um heimischem Horror wie Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch zu entgehen. Aufmerksamkeit und Zeit seien die Schlüssel zum Vertrauen der Jugendlichen, erzählt die pädagogische Leiterin des Kinderheims, Martina Engesser: „Sie wollen jemanden, der sie wahrnimmt.“ Das gelingt dem Verein bisher überaus erfolgreich: Mehr als 600 Jugendliche konnte „Off Road Kids“ bisher von der Straße holen, weit mehr als die Hälfte konnte hier mindestens bis zu einem Realschulabschluss geführt werden.
Klaus Hurrelmann wundert sich nicht über den Erfolg solcher Projekte. Der Sozialwissenschaftler an der Universität Bielefeld, Autor zahlreicher Publikationen zum Thema und Leiter der „Shell-Jugendstudie 2002“ ist überzeugt: „Man tut den Jugendlichen einen Gefallen, wenn man ihnen feste Strukturen gibt: Feste Vereinbarungen verlangen feste Leistungen, die beim Erfüllen auch belohnt werden.“ Erst in solch einem klar strukturierten Umfeld könnten sich aus der Bahn geratene Jugendliche stabilisieren.
Das Konzept bei „Off Road Kids“ ist simpel und funktioniert vielleicht gerade deshalb so gut: Gute Leistungen werden prämiert, schlechte sanktioniert – etwa mit zusätzlichen Koch- und Putzdiensten oder strengeren Ausgangszeiten. Das von Martina Engesser und Simone Frey entwickelte Modell nennt sich „Herzliche Strenge“ und setzt auf Disziplin und Leistung: „Nur so können die Jugendlichen lernen, dass sie sich selbst hocharbeiten müssen“, erklärt Engesser.
Der Verein hilft bei der Suche nach der jeweils bestmöglichen Perspektive, freilich ohne sie auf dem Silbertablett zu servieren: „Wir halten nichts von Punker-Fütterungen“, erklärt der 38-jährige Seidel und drückt dabei seinen Stift auf die Holzplatte des Schreibtisches. Das macht er immer, wenn ihm eine Aussage besonders wichtig ist: Wer ein Streetwork-Büro des Vereins betritt, bekommt dort nichts zu essen, denn Lebensmittelversorgung mache das Leben auf der Straße für die Ausreißer viel zu bequem. So könne man die jungen Menschen nicht dauerhaft von der Straße bekommen, sagt der Vereinsvorsitzende.
Im Kinderheim in der Bad Dürrheimer Eisenbahnstraße gibt es klare Regeln. Wer hier rein will, muss sich schriftlich bewerben. Im täglichen Miteinander gehören gute Manieren und ein gepflegtes Äußeres dazu. „Herzliche Strenge“ bedeute aber auch eine Chance zur Bewährung: „Je besser die Leistungen sind, umso weniger restriktiv sind die individuellen Regeln“, erklärt Engesser das Prinzip.
Es gibt regelmäßige Drogen- und Alkoholkontrollen, zweimal in der Woche werden die Zimmer überprüft, es gibt nur einen Fernseher im Gemeinschaftsraum und jeder Jugendliche muss mindestens sechsmal in der Woche beim gemeinsamen Abendessen dabei sein. Wer morgens nicht selbstständig aus den Federn kommt, der muss dann eben am Abend das Essen für alle zubereiten.
Der Clou dieser rigiden Hausregeln: die Jugendlichen selbst haben sie mit aufgestellt. Vielleicht spricht deshalb auch aus manchen Maßnahmen eine Sehnsucht nach etwas, was die meisten der Jugendlichen nicht kennen: ein Familienleben. Und damit auch eine zweite Chance, einen Platz in der Gesellschaft zu finden.
Gleichwohl sieht der Jugendsoziologe Klaus Hurrelmann genau darin eine Gefahr: „Die Kunst der Fachleute liegt darin, jedem Jugendlichen ein Anforderungspaket nach seinem Potenzial zu schnüren.“ Überfordere man sie, so führe das zu Frust und Aggression.
Deshalb hält die Laissez-faire-Fraktion der Pädagogik – zu der Hurrelmann aber nicht gehört – die leistungsbetonenden Modelle für fragwürdig. Sie fragen sich, welch ein Menschenbild bei den Jugendlichen geprägt wird, wenn alles zum subtilen Konkurrenzkampf wird. Dahinter stecken altbekannte Fragen: Wie viel kann man von dem Einzelnen verlangen? Ab wann wird Grenzziehung zum Freiheitsverlust? Und: Darf man Hilfe an erbrachte Leistungen knüpfen?
Für Klaus Hurrelmann stellen sich diese Fragen so nicht, denn: „Grundsätzlich ist es für die meisten Jugendlichen eine tolle Erfahrung, etwas zu leisten.“ Deshalb seien die Möglichkeiten, die Projekte wie die „Off Road Kids“ den Jugendlichen böten, wesentlich höher zu bewerten als eventuelle Einschränkungen.
Wenn ein Konzept so erfolgreich ist wie das der „Off Road Kids“, liegt der Gedanke nah, es auf andere gesellschaftliche Bereiche zu übertragen. Der Soziologe Hurrelmann sieht hier viele mögliche Ansatzpunkte für mehr Leistungseinforderung: Schule, Elternhaus, Hartz IV.
Eine Grundbedingung müsse allerdings immer erfüllt sein: „Wenn man so etwas macht, müssen die Regeln transparent und plastisch sein“, sagt Hurrelmann, dann erst erweise sich ein leistungsorientierter Ansatz als wertvoll: „Viele Jugendliche haben eine Sehnsucht nach festen Strukturen. Sie würden häufig gerne wissen, was ihre Eltern für falsch und richtig halten.“
Das erlebt Martina Engesser in ihrer Arbeit bei den „Off Road Kids“ immer wieder: „Man darf bei diesen Jugendlichen nicht lange Rumpädagogisieren“, beschreibt die pädagogische Leiterin den erzieherischen Vorteil von klaren Grenzen bei ehemaligen Straßenkindern.
Bei allem Erfolg gibt es natürlich auch in Bad Dürrheim Enttäuschungen: Der erste Junkie, den sie, „ausnahmsweise“, aufgenommen hatten und an den sie irgendwann nicht mehr herankamen. Oder der Rückfall einiger Jugendlicher, wenn sie in eine eigene Wohnung ziehen und sie die Einsamkeit wieder auf die Straße treibt.
Von solchen Rückschlägen aber lassen sich Martina Engesser und Markus Seidel nicht entmutigen: „Das Schöne an diesem Job ist, dass jeder Tag eine neue Chance bedeutet, eine Brücke zu den Jugendlichen aufzubauen“, sagt Engesser.
Dann steht sie auf, blickt kurz in die Küche und lächelt. Das warme Licht glimmt dort noch immer.
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