: „Ich kenne alle Züge nach Prag“
Jaroslav Šonka
Er ist nach dem gescheiterten Prager Frühling nach Deutschland ins Exil gegangen und fühlt sich in Berlin ebenso zu Hause wie in Hamburg, Heidelberg oder Malaga. Doch für die Auseinandersetzung mit den tschechisch-deutschen Beziehungen ist Berlin der wichtigste Ort, sagt Jaroslav Šonka (56). Der Pendler zwischen Berlin und Prag, der bei der Europäischen Akademie als Studienleiter arbeitet, hofft, dass die Kulturbeziehungen beider Länder intensiver werden. Seinen Beitrag dazu hat er geleistet. Šonka hat den heutigen tschechischen Präsidenten Václav Klaus durch Berlin geführt. Klaus, eher als Nationalist denn als Proeuropäer bekannt, sei davon überwältigt gewesen.
Interview UWE RADA
taz: Herr Šonka, sind Sie ein Berliner?
Jaroslav Šonka: So wie ich ein Prager, Hamburger oder Heidelberger bin, bin ich auch ein Berliner. Und ein Malagueño. Man gewinnt an bestimmten Orten, in denen man lebt …
… Heimataktien.
Genau. Man hat irgendwann das Gefühl, diese Stadt wird nicht abgehakt im Leben. Das gilt bei mir für Prag, Hamburg, Heidelberg, Malaga …
… und Berlin.
Auch wenn ich noch an vielen anderen Orten lebte.
Welche Städte haben bei Ihnen keine Heimataktien?
Ulm!
Warum Ulm?
Ulm ist eine schöne Stadt, in der man 14 Tage Urlaub machen kann. Sie hat einen sehr spezifischen, leider nicht besonders offenen Charakter. So wie heute Deutschland insgesamt. Du darfst dort arbeiten, aber die Regeln darfst du nicht bestimmen.
Welche Regeln?
Sprachregeln zum Beispiel. In Berlin kannst du alles sprechen, auch mit Akzent. Die Gastarbeiter in Ulm schwäbeln entsetzlich, die lernen nie Deutsch, auch weil niemand von den Scheindeutschen in der Umgebung ihnen Deutsch beibringt.
Ist Berlin das Gegenteil von Ulm?
Auf jeden Fall. Berlin ist eine junge Stadt. Berlin hat viele Probleme. Die Leute mussten lernen, mit Katastrophen und Herausforderungen umzugehen.
Das kommt einem wie Ihnen gerade recht.
Wenn Sie das so sagen.
Sind Sie angekommen in dieser Stadt?
Ich glaube, ja. Ich kann mich über vieles ärgern. Überall da, wo man sich ärgert, hat man die Heimataktien bereits erworben.
Warum sind Sie dann noch Mitglied des tschechischen Exil-PEN?
Das ist der Exil-PEN deutschsprachiger Länder. Der ist – da haben Sie wohl Recht – mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zur Organisation der alten Herren geworden. Er war für Leute, die eine Heimat brauchten, um das Geschriebene austauschen zu können in einer Situation, wo sie zum Beispiel die Sprache des Gastlandes gar nicht richtig beherrschten.
Der Begriff legt nahe, dass es sich da um Mitglieder handelt, die sich noch heute im Exil fühlen. Gehören Sie zu denen?
Ach was, ich bin doch schon wieder mit einem Bein in Prag. Gerade habe ich mir meinen tschechischen Reisepass geholt. Der ist bis 2015 gültig. Trotzdem kann ich noch Berliner sein. Berlin verträgt diese ganzen Geschichten. Außerdem hat es Böhmen und Tschechen schon immer in der Stadt gegeben.
Das Böhmische Dorf in Rixdorf.
Und das Reichsluftfahrtministerium, das heutige Sparministerium. Das war einmal ein böhmisches Weberhäuschen. Darüber gibt es Dokumente. Europäische Identität und Heimatgefühle vertragen sich in Berlin durchaus miteinander.
Diese Identitätskisten: Können Sie mit denen etwas anfangen, oder wollen Sie da lieber nicht reingesteckt werden?
Man darf das auch von der lustigen Seite sehen. Schauen Sie sich den Muslim-Fragebogen in Baden-Württemberg an. Die, die den erfunden haben, können doch selber gar kein richtiges Deutsch. Die würden bei jeder ordentlichen Prüfung in Deutsch durchfallen.
Man hat Sie mal den aufblasbaren Tschechen von Berlin genannt. Warum?
Das war eine sehr praktische Bezeichnung. Die ging darauf zurück, dass Prag sehr weit von Berlin entfernt ist, nämlich 360 Bahnkilometer. Weil man bei vielen Treffen in Berlin inzwischen polnische Gäste dabeihatte, wollte man auch Tschechen haben. Nur durften die keine Reisekosten verursachen. Also hat man auf mich zurückgegriffen. Man bläst mich damit gewissermaßen auf.
Der Berliner Tscheche vom Dienst.
Obwohl ich sonst doch eine unauffällige Existenz führe.
Ja? Sie fordern immerhin, wenn auch scherzhaft, die Verlegung der Bahnzentrale nach Dresden.
Das liegt näher an Prag als Hamburg, stimmt. Außerdem müsste Herr Mehdorn die Vorstellung des Lehrter Bahnhofs als Ost-West-Kreuz ernst nehmen.
Warum dann nicht gleich nach Prag?
Oh, ich fürchte, das würden die Tschechen als Einmischung in innere Angelegenheiten missverstehen.
Haben die Deutschen es als Einmischung empfunden, als Sie selbst 1969 nach dem gescheiterten Prager Frühling nach Westdeutschland ins Exil gingen?
Da gab es zwei Erfahrungen. Einmal die Studenten in Hamburg, die mich als Verräter an ihren eigenen sozialistischen Idealen gesehen haben. Das hat sie aber nicht daran gehindert, mir bei manchen Prüfungen zu helfen. Zum anderen habe ich in Westdeutschland die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit schätzen gelernt. Das war für mich der Geruch der freien Welt. Die tschechische Gesellschaft hat heute noch immer ein paar schlecht ausgeleuchtete nationalistische Ecken.
Sind Sie für Prag ein Nestbeschmutzer?
Für manche Leute auf jeden Fall, ja. Für andere wiederum nicht.
Viele Exilanten sind nach der samtenen Revolution in die Tschechoslowakei zurückgekehrt.
Ja. Aber man musste sehr genau schauen, unter welchen Umständen. Für mich, der ich eine Tochter habe – ein tschechisch-deutsches Mischlingskind übrigens –, gab es auch die Frage, wo sie die besten Ausbildungsmöglichkeiten hat. Darüber hinaus war die Situation in Tschechien Anfang der 90er-Jahre nicht sehr einladend. Zwar herrschte eine Art Aufbruchstimmung. Man griff auch sehr gerne auf meine Mitarbeit zurück, ich bin bei vielen Projekten dabei gewesen. Aber sich eine Existenz aufzubauen war sehr schwierig.
So wurde aus dem Exilanten kein Rückkehrer, sondern eine Pendelexistenz.
Ich kenne alle Züge, Abfahrtszeiten und Verspätungen.
Wie bekannt ist Berlin bei den Tschechen?
Als touristisches Ziel war es lange unbekannt. Da sind die Tschechen lieber nach Quedlinburg oder Potsdam gefahren. Doch das ändert sich derzeit. Die Tschechen, die nach Berlin kommen, sind völlig überrascht. Weniger von der Architektur der Hauptstadt als vielmehr von der Dynamik, die man hier findet.
Was meinen Sie konkret?
Ich habe selber Václav Klaus durch die Stadt führen dürfen, da war er noch nicht Präsident, sondern Regierungschef. Das war 1997. Klaus war nach einem kurzen Besuch 1963 zum ersten Mal seit mehr als 30 Jahren wieder in Berlin. Das zeigt auch, dass er als Ministerpräsident eigentlich kein Interesse hatte, die künftige Hauptstadt des Nachbarlandes regelmäßig zu besuchen. Dann aber hat er das Interesse gefunden, und es hat ihn regelrecht gepackt.
Wo haben sie Václav Klaus hingeführt?
Auf Baustellen, an historische Stätten, ein breites Programm, eine Stunde lang mit einem Chauffeur. Und so, wie es Klaus damals ging, geht es den meisten Tschechen, die Berlin über lange Zeit aus ihrer Wahrnehmung ausgeblendet haben. Sie kommen in die Stadt und sind völlig überrascht.
Die meisten aber kommen als Touristen. Oder warum sonst ist die tschechische Kultur in Berlin so viel weniger präsent als die polnische oder die russische?
Letztens hat man gezählt, dass nur etwa 800 Tschechen in Berlin leben. So kommt es, dass sich heute eher die Deutschen als Nachfahren böhmischer Einwanderer um das kulturelle Erbe der Tschechen kümmern. Aber das wird sich sicher ändern.
Sie kommen immer wieder auf das kulturelle Erbe zurück. Wie kommt es, dass Erinnerungspolitik bei Ihnen diese Rolle spielt? Sie sind von der Ausbildung her ja promovierter Biologe.
Ich habe bereits 1990 angefangen, mich mit den deutsch-tschechischen Beziehungen zu befassen. Zunächst auf dem Feld der Wissenschaft. Dann habe ich die Biologie abgestreift und das andere neu dazugelernt. Heute bewege ich mich irgendwo zwischen dem Feld der Medien und dem Thema Vermittlung und Verständigung.
Auch bei der Europäischen Akademie in Grunewald, wo Sie als Studienleiter arbeiten.
Ja. Und der Hauptstadtumzug war ein wichtiger Schritt in diesen Dingen. Es war die Rückkehr der Bundesrepublik in die Stadt, von der ein Großteil der Stereotype ausgegangen war. Aber auch in eine Stadt, in der es ein Vorher gab. Heute weiß man kaum mehr, wie viele tschechische Kabarettisten in den 20er-Jahren in Berlin arbeiteten, wie viele Operettensänger und Filmschauspieler. Und auch während der Nazizeit gab es Kontakte. Hans Albers zum Beispiel hat viele seiner Filme in den Studios von Barrandov in Prag gedreht, weil es dort keine alliierten Luftangriffe gab. Wenn man sich mit der Verständigung beschäftigt, kommt man um die Vergangenheit nicht herum. Dafür ist Berlin die erste Adresse in Europa.
Werden diese Beziehungen aus den 20er-Jahren heute wiederbelebt?
Es wächst.
Sie würden sich mehr wünschen?
Natürlich. Mehr Kulturaustausch, mehr gemeinsame Theaterprojekte, mehr Stipendien für gegenseitige Aufenthalte, mehr Interesse an der Sprache des andern.
A propos Sprache. Sie beklagen immer wieder, dass die Deutschen zu faul seien, eine slawische Sprache zu lernen. Wenn sie aber versuchen, einen slawischen Namen richtig auszusprechen, würden sie Ihnen auf die Brille spucken.
Halt, halt! Das bezog sich auf diese politische Korrektheit, alle slawischen Ortsnamen richtig aussprechen zu wollen. Warum wollen sie das nur, Sie sagen doch auch Florenz und nicht Firenze. Wenn jemand zum Beispiel Oskar Schindlers Geburtsort Moravská Třebová richtig aussprechen will, spuckt er mir wirklich auf die Brille. Deshalb kann er ruhig mährisch „Trübau“ sagen. Ich sehe es ihm nach.
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