EIN WIRBELSTURM LETZTER WORTE, EIN PARADIES DER PLAUSIBILITÄT, EIN „SCHATZ DER SIERRA MADRE“-ARTIGES FINALE UND EIN DRITTELINTERESSANTES FEEL-GOOD-MOVIE
: Die Popularität des Parcours-Sports

VON DIEDRICH DIEDERICHSEN

Mein Lieblingsfilm: „Das Alter der Erde.“ Er wird nur alle zehn Jahre in Wien oder Berlin gezeigt, wenn ich gerade in der anderen Stadt bin. Glauber Rochas dreistündiger Wirbelsturm letzter Worte zu allem. Ich kam darauf, weil ich seinen „Antonio Das Mortes“ wieder sah, den man oft zu sehen kriegt, in einer restaurierten Version. Auch an diesem Film ist alles so restlos wunderbar: die Italo-Western-goes-Brecht-Pappkameraden der kleinen Regierung, die wogenden, voguenden Kultanhänger, der verzweifelte Neo-Cangaçeiro, der sentimentale Antonio, der sich nach Jahrzehnten in den Diensten der Herrschenden der rächenden Revolte anschließt, die elektronische Musik von Marlos Nobre und die an „Stack-O-Lee“ und Folk-Blues erinnernden endlosen Balladen über den Krieg im Sertão und dessen Spätfolgen im modernen Brasilien.

Es gibt viele gute alte Filme auf der Berlinale, früher habe ich mich oft tagelang in der Retrospektive versteckt, mir dann wieder striktes Retrospektiven-Verbot erteilt. „Man darf die guten alten Filme nicht den neuen Filmen vorhalten“, sagte Detlef Kuhlbrodt zu mir, als wir uns nach einem ebenfalls großartigen Almodóvar von 1986 („La ley del deseo“) über den Weg liefen. Das stimmt, aber sie stehen in deren Schatten. Thomas Arslan hat seinen Film sicher nicht deswegen so genannt („Im Schatten“). Ich habe diese Ekstase des Folgerichtigen, dieses Paradies der Plausibilität, in dem alles, was passiert, etwas anderes begründet, alles kommt, wie es kommen muss, und einen trotzdem mit hoher Anteilnahme zuschauen lässt, sehr genossen. Es ist natürlich komplett ein Melville-Film. Das wäre noch kein Problem, ich hätte auch nichts gegen neue Glauber-Rocha-Filme aus der Berliner Schule. Aber wollen wir die Weltanschauung von Melville? Oder lieben wir seine Filme gerade, weil sie über das, was der Meister dachte, hinausgehen? Können wir dann an den Symptomen des inneren Konflikts dieses Toten weiterarbeiten? Womöglich.

Die andere Melville-Figur begegnet uns in „Räuber“ von Benjamin Heisenberg, aber er fügt ihr etwas hinzu, das mir sehr gefällt. Dieser Marathon laufende Outlaw ist zwar einsam, wortkarg und abweisend wie seine Vorbilder, aber er ist nicht aristokratisch cool, sondern proletarisch hot. Seine Rennerei ist nicht gelebte Überlegenheit, sondern erarbeitete Überwindung eben nicht von kleinbürgerlichen inneren Schweinhunden, sondern von äußeren Hindernissen. Die Popularität des Parcours-Sports ist sein zeitgeschichtlicher Hintergrund; es geht um die Eroberung der Stadt, wenn auch allein und nicht in Banden wie früher bei Skatern. Leider wird der Mann dann in einem „Schatz der Sierra Madre“-artigen Finale am Berg in ein anderes und eher älteres Genre gestoßen.

Noch älter als die Filme, auf die wir uns berufen, ist dieses Jahr das Festival selbst geworden. Was gar nicht mehr zum Kino dieser Tage passt, ist das Bild des Festes, des Theaterbesuchs, der Abendgarderobe und der explodierenden Kronleuchter und Discokugeln aus den Logos und Vorspännen. Auch die Schauspieler werden nicht jünger: James Gandolfini ist Jahrgang 1961. Als er 1999 mit den Sopranos begann, konnte man ihm das glauben, am Ende der Serie ist er an seiner Rolle rasant vorbeigealtert, als hätte er privat noch viel mehr Leute verprügelt, exekutiert oder ihnen ein freundliches „Take it easy“ rübergemümmelt als in der Serie. Für seinen Part in dem drittelinteressanten Feel-good-Movie „Welcome To The Rileys“ (von Ridley Scotts Sohn, der Vater wirft hier aber keinen stilistischen Schatten) musste man das Schwergewicht daher ein paar Jahre älter machen. Man hat sich für mein Alter entschieden. Vielen Dank!