MARTIN UNFRIED ÜBER ÖKOSEXWARUM ZWAR DER GLAUBE AN DIE ERWÄRMUNG SCHMILZT, KALTE WINTER ABER DENNOCH IN SACHEN KLIMASCHUTZ SUPER SIND
: Das Kalter-Winter-Paradox

Bekanntlich wohne ich nicht in Holland, sondern in Maastricht im sonnigen Süden des Beatrix’schen Königreichs. Bei uns, wo die belgische Meuse (sprich Mös) zur heimischen Maas wird, herrscht normalerweise ein mediterranes Klima. Nicht zu vergleichen mit den sibirischen Wintern in Berlin. Unsere Vorstellung bisher: Winter findet an zwei, drei Tagen im Januar statt, es geht kaum unter null Grad, Nebel und Regen sorgen für etwas Abwechslung.

Regen im Winter ist wiederum kein Problem, da die Vorstellung herrscht, Fietshosen seien eine patente Sache und modisch okay. Deutsche haben natürlich vom Winter ein ganz anderes Bild mit Schnee und allem Pipapo. Vom modischen Chic innovativer Fahrradbeinbekleidung übrigens auch.

Heute möchte ich philosophisch beleuchten, wie die Vorstellung von der Welt die Welt beeinflusst und wie schnell sich Vorstellungen ändern können. In Maastricht hatte das Image vom Winter gravierende Nachteile für das öffentliche Leben. Beispiel Winterreifen: Viele meinten, die seien unnötig. Konsequenz: Die letzten Wochen gab es täglich 500 km Autobahnchaos, weil der Winter sich nicht an die vorgestellte Schneelosigkeit hielt. Noch tragischer: Leider hat auch die niederländische Bahn ein eindimensionales Bild vom Winter.

Bei Schnee fahren keine Züge, weil die niederländischen Weichen eben Schönwetterweichen sind und versagen, sobald es schneit. Das ist eine Demütigung für jeden anständigen Zugfahrer und die solare Effizienzrevolution. Ich hatte immer die Vorstellung, die Bahn sei gerade im Winter das überlegene Betriebssystem. Völlig falsch. Auch bei mir hat dieser strenge Winter einstmals stabile Weltbilder erschüttert.

In Sachen Klimaerwärmung scheinen die Erschütterungen eher suboptimal zu sein. Was haben mich sogenannte Bekannte heiter von der Seite angesprochen. Ob denn nicht der strenge Frost endlich beweise, dass Kopenhagen und das ganze Gedöns doch eine rechte Lachnummer waren. Hahahah. Stichwort Himalaja, Rechenfehler, Climategate und dann minus 8 Grad in der Nacht. Die ganze Erwärmung sei doch, haha, „Schnee von gestern“?

Hier nun greift überraschenderweise das Paradox des kalten Winters. Ja, kurzzeitig sinkt wegen Kälte der Glaube an wärmere Temperaturen signifikant. Gemäß der sogenannten Mumpitzkurve. Meine These allerdings: Trotz Medienoverkills hat die Klimakonferenz in Kopenhagen nicht annähernd so viel Gutes gebracht für den Klimaschutz wie dieser kalte Winter. Das können wir mit den philosophischen Kategorien „ich“ und „heute“ elegant beschreiben. „Ich“ bin es, der „heute“ am Ende des Winters die Energierechnung öffnet. „Fucking hell“, sagt da das „Ich“. Und das ist mir näher als der ferne „Du“, als der unbekannte „Andere“, der die fernen Malediven bewohnt.

Auch der noch nicht gezeugte Urenkel, welcher im Jahre 2080 wegen Klimaveränderung eine imaginäre Zeche zahlt, bleibt unvorstellbar. Nicht aber die Gasrechnung. So ist es gerade das „schockierte Ich“, das meine Ökosexberatung im Gebäudebereich in naher Zukunft massiv unterstützen wird.

Viele meiner Nachbarn dachten, ihr Altbau sei okay und die Kaltluft am lausigen, einfachverglasten Fenster eine Art natürliche Belüftung. Sie haben am eigenen Leibe gespürt, was Klimaveränderung bedeuten kann. Ihre Herzen sind bereit für solare Heizungen, Dreifachverglasung und Kellerisolierung. Für überzeugenden Klimaschutz eben.

Das „Kalter-Winter-Paradox“ ist also dufte. Nächstes Jahr bitte noch kälter. MARTIN UNFRIED

Hinweis: ÖKOSEX Sind auch Ihre Herzen bereit? kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann LAUFEN