In Deutschland gähnen die Begabten

Eine international besetzte Tagung in Bad Boll zeigt: Für hochbegabte SchülerInnen ist die Schule viel zu langweilig. Das deutsche Bildungssystem hat die Begabtenförderung lange verschlafen. Das muss sich ändern – zum Wohl aller Kinder

Aus BAD BOLLCHRISTIAN FÜLLER

Abdullah M. al-Jughaiman zieht ein ungläubiges Gesicht. Gerade hat der Gast aus Saudi-Arabien erfahren, dass Schulen hierzulande bereits Zehnjährige in verschiedene Zweige wie Gymnasium und Hauptschule trennen. „Was machen Sie, wenn sich ein Schüler erst mit 15 Jahren als besonders begabt erweist?“, fragt der Wissenschaftler, der in Riad mit der König Abdulasis-Stiftung hochbegabte Saudis fördert. „Ich dachte, Deutschland hätte ein modernes Schulsystem?“

Wie al-Jughaiman ging es vielen bei der Konferenz „Hochbegabtenförderung weltweit“. Die Experten reisten aus Amerika und Australien, aus Russland und China an, wo es teils eigene Studienprogramme zur Förderung besonderer Talente gibt. In der Evangelischen Akademie in Bad Boll lernten sie ein Land kennen, das seinen unerkannten kleinen Genies erst neuerdings Aufmerksamkeit schenkt.

„Jeden Tag schleppen hochbegabte Schüler ihren Körper in die Schule, um ihn dort nur abzustellen“, beschrieb der Präsident des Weltverbandes für besonders begabte und talentierte Kinder, Den-Mo Tsai, den Schulalltag Begabter. Sein Vorschlag: kreativer Unterricht, der auf die individuellen Interessen eingeht. „Wenn Schüler sich so sehr unterscheiden, warum sollen wir sie im Unterricht alle gleich behandeln?“

Die Neugierde für Hochbegabung in Deutschland ist immens. Überall entstehen Beratungsstellen und Einrichtungen, die Hochbegabte als solche identifizieren. Es gibt Kinderakademien, Möglichkeiten der früheren Einschulung und vor allem: ein neues Verständnis. „Die Lehrer merken inzwischen, dass es sich um Hochbegabte handelt und nicht um Kinder, die nur nerven“, sagte der Begabungsforscher Christoph Perleth von der Uni Rostock.

Trotz des Interesses wird es langsam eng für die deutsche Schule. Die UN schickt einen Sonderbotschafter, um die Einhaltung des Rechts auf Bildung für Migranten und untere Schichten zu begutachten (siehe Bericht auf Seite 18). Zugleich zeigen Studien, dass die Leistungsspitze der Schüler dünn ist. Probleme sind die Identifizierung der IQ-starken Schüler – und adäquater Unterricht. Oft werden die kleinen Einsteins oder Marie Curies nicht entdeckt, weil sie aus Langeweile gar nicht mehr am Unterricht teilnehmen. Oder weil sie in anderen Mustern denken als der Lehrer.

„Wenn man mit so extrem individuellen Schülern arbeitet“, berichtet Christine Hochmuth vom Deutschhausgymnasium in Würzburg, „dann geht das nicht mit den traditionellen Formen von Schule.“ Hochmuths Gymnasium hat seit fünf Jahren Modellklassen für Hochbegabte. Die Lehrer dort arbeiten in Teams, sie versuchen das forschende Lernen der Schüler in Projekten zu fördern. Den Experimenten sind aber etwa durch den 45-Minuten-Takt der Schulstunden Grenzen gesetzt. „Ich möchte aber, dass die Schüler ihre Potenziale so ausschöpfen, wie sie es wollen. Wir Lehrer sind nur begleitende Experten.“

Für Hochmuth geht es bei Begabtenförderung nicht darum, „den Kindern möglichst viel Wissen in den Kopf zu stopfen“. Ihre Schule verfolgt den Ansatz, die Schüler in ihren oft widersprüchlichen Persönlichkeiten ganzheitlich wahrzunehmen – und das Schulsystem weiterzuentwickeln. „Denn was für den Unterricht Hochbegabter gilt, muss für alle Schulen gelten.“