: Glück und Unglück im Kibbuz
WOHNEN Utopie und Realität klaffen oft auseinander. Die Ausstellung „Domestic Utopias“ in der NGBK zeigt, dass es sich dennoch lohnt, über alternative Formen des Zusammenlebens jenseits der Kleinfamilie nachzudenken
VON INGA BARTHELS
Windräder auf Dächern, Kreuzberger Spreegurken und vor allem eine Gemeinschaft, in der sich gegenseitig geholfen wird – die Bewohner des Kotti haben große Träume. Was wäre, wenn der Kotti ihnen gehören würde, diese Frage stellte der Künstler Stefan Endewardt den Anwohnern des Kottbusser Tors in Kreuzberg. Die Ergebnisse hat er in einer Installation namens „Kotti L’Amour – La Commune“ zusammengestellt, die sich stets weiterentwickeln soll. Er nennt sie ein „räumliches Wiki“: In Videos, Wanddiagrammen und auf Zetteln kommen Aktivisten und Bewohner des Kotti zu Wort. Sie reden von Zukunftsängsten, real umsetzbaren Vorschlägen und Utopien des Zusammenwohnens.
Letztere sind auch Thema der Ausstellung „Domestic Utopias“ in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, zu der Endewardts Installation gehört. Es geht um Formen des häuslichen Zusammenlebens und um die Organisation von Reproduktionsarbeit, also Arbeit im Haus, die nicht durch Geld entlohnt wird: Essen kochen, sauber machen, sich um die Kinder kümmern. Dabei reicht die Spannweite der Arbeiten von architektonischen Überlegungen der Moderne, über Wohnmodelle wie die Kibbuzim in Israel bis zu neuen Wohnprojekten in Deutschland.
Optisch leitet Heike Gallmeiers „You still wouldn’t like me when I’m angry“ in die Ausstellung ein. Die Künstlerin hat mehrere Wände hintereinander aufgestellt, sie bemalt und tapeziert, um sie dann mit einem Vorschlaghammer zu durchbrechen. Das ist visuell beeindrucken und sieht nach einem starken Statement aus. Was es thematisch mit der Ausstellung zu tun hat, bleibt aber unklar: Eine Frau bricht aus, raus aus den beklemmenden vier Wänden vielleicht?
Einige der abstrakteren Arbeiten – wie etwa eine Bettlakeninstallation von Chris Campe – sind thematisch nur schwer in die Ausstellung einzuordnen. Auch der feministische Anspruch, der im Katalog der Ausstellung formuliert wird, bleibt häufig schwammig. Dass in Annette Wehrmanns Installation „Ufo“ Bücher feministischer Science-Fiction-Autorinnen wie Marge Piercy und Octavia Butler gelesen werden können, wirkt da fast wie eine Wiedergutmachung: Wo feministische Utopien in der Ausstellung fehlen, können sie wenigstens hier nachgelesen werden.
Die interessantesten Arbeiten von „Domestic Utopias“ sind jene, die sich mit realen Wohnsituationen befassen und nach der Machbarkeit des Lebens in einer großen Gemeinschaft fragen. Etwa in Kibbuzim, Israels ländlichen Kollektivsiedlungen. Hilla Ben Ari wuchs in einem solchen Kibbuz auf. Sie klebte für die Ausstellung den Grundriss ihres Kinderhauses an die Wand. Das Werk wirkt industriell, fast wie eine Fabrik, und lässt ahnen, dass Ben Ari das Leben in ständiger Gemeinschaft nicht als ideal empfand. Einen Gegenstandpunkt nimmt die Videoarbeit „Roots“ von Ofir Feldman ein. Das Video zeigt ein anrührendes Gespräch zweier alter Frauen, beide Holocaust-Überlebende, die im Kibbuz glücklich und geborgen alt werden.
Auch alternative Formen des Zusammenlebens in Deutschland behandelt „Domestic Utopias“. Julia Bonn, eine der Kuratorinnen der Ausstellung, hat sich mit Bewohnern des Gemeinschaftshauses M29 in Prenzlauer Berg zusammengesetzt, in dem 20 Erwachsene und 3 Kinder miteinander leben. Das Interview ist in der Ausstellung zu hören. Die Bewohner der M29 sind insgesamt positiv eingestellt: sauber machen, kochen – noch klappt alles ohne Plan, irgendwie.
Ein deutlich negativeres Bild des Zusammenlebens in einer Kommune zeichnet die Videoarbeit „Aber es war auch nie Winter in meiner Vorstellung“ von Luitgard Wagner und Carsten Horn, ebenfalls Kuratoren der Ausstellung. Auf einer Leinwand sind Fotos aus der WG zu sehen, während aus dem Off Aussagen der Bewohner vorgelesen werden. Die zeigen, dass ein Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern in einer Landkommune nicht das Paradies ist, als das sie es sich anfangs vorgestellt hatten. Reproduktionsarbeit ist auch hier weder als „echte“ Arbeit angesehen noch gerecht zwischen Mann und Frau aufgeteilt. Eine der Stimmen bringt es auf den Punkt: „Ich merke, wie scheiße ich mich fühle, weil meine Arbeit nicht bezahlt wird.“
Das Werk zeichnet einen negativen Gegenpunkt zu Stefan Endewardts enthusiastischen Kotti-Anwohnern. Es gibt ihn eben doch, den gravierenden Unterschied zwischen Realität und Utopie. Und trotzdem – das macht „Domestic Utopias“ deutlich – lohnt es sich nachzudenken über alternative Formen des Wohnens und Zusammenlebens, jenseits der Kleinfamilie im Reihenhaus. Und zu träumen, von einer hilfsbereiten Gemeinschaft und Kreuzberger Spreegurken.
■ Bis 28. Juli in der Neue Gesellschaft für Bildende Kunst e. V., Oranienstraße 25, tägl. 12–19 Uhr, Do.–Sa. bis 20 Uhr
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