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Archiv-Artikel

Mehr als bunte Bildchen

NEUE MAUERPERSPEKTIVEN

Die Ausstellung bedeutet Begrenzung und Entgrenzung gleichermaßen

Warum genießt Berlins East Side Gallery eigentlich einen so guten Ruf? Weil sich dort ein paar durchschnittliche Künstler verewigt haben, Honecker und Breschnew sich küssen oder ein Trabi die Mauer durchbricht? Die Frage ist natürlich rhetorisch, denn die Mauer als Chiffre der Erinnerung und der spielerische Umgang mit ihr nach 1989 durch die Wandmalereien und die Rolle der East Side Gallery als Denkmal haben bis dato ihre Bedeutung. Mehr noch: Zu Recht wehren wir uns, wenn Bagger anrollen, um für einen Neubau ein paar Mauerstücke abzuräumen. Und bissig sehen wir darüber hinweg, dass sich täglich Tausende Touristen aus aller Welt vor den Mauer-Graffiti ablichten und meinen, die habe schon zu DDR-Zeiten so lustig und bunt ausgesehen – the wall, wie geil!

Die Ausstellung „Wallonwall“, die in dieser Woche auf der Rückseite der East Side Gallery, also zur westlichen Spreeseite hin, eröffnete, hat das 360 Meter lange Mauerstück erneut verwandelt. Und zwar in eine East-West Side Gallery mit Zukunft. Die 36 großen Panoramen des Fotografen Kai Wiedenhöfer zeigen ganz harte reale Mauern, die noch nicht eingerissen wurden und die die Menschen trennen: etwa in Belfast, auf Zypern, in Korea, Bagdad oder in Marokko und an der mexikanischen Grenze und im Westjordanland.

Dass die Berliner Mauer die Projektionsfläche und zugleich das Beispiel ihrer möglichen Zerstörung – also der Vergänglichkeit von politischen und räumlichen Mauern – abgibt, ist eine kluge Metapher. „Wallonwall“ bedeutet Begrenzung und Entgrenzung gleichermaßen.

Das sehen die selbst ernannten Gralshüter der East Side Gallery, deren Initiatoren Kani Alavi und Co., natürlich nicht so. Für sie sind die bunten Bildchen auf der anderen Seite das Nonplusultra. Hände weg von der East Side, maulten sie. Und dass das Original entwertet werde.

Mal ganz cool bleiben. Abgesehen davon, dass die East Side alles andere als authentisch ist, wird nun die East Side Gallery noch West Side Gallery, und Dialektik sollte jedem Künstler, also auch Alavi und Co., nicht fremd sein. Erstens: Jede Mauer hat zwei Seiten. Zweitens: Die Metamorphose der Ostseite zu einer Westseite, die sich der Dokumentation der Eisernen Vorhänge in aller Welt annimmt, rüttelt an den Fundamenten aller Mauern. Sehr schön! Schon darum, weil etwa amerikanische Touristen erfahren, dass die Vereinigten Staaten die Mauernation No. 1 sind: 700 Kilometer Mauer durch Bagdad und 3.141 vor Mexiko. Mr Obama, tear down these walls!

ROLF LAUTENSCHLÄGER