Tomaten auf der Suche nach Gestalt

KUNST Im Bremer Marcks-Haus treffen dicke Marmorblöcke auf Unterwasser-Fotografie. Beide beziehen sich auf Michelangelo, Martinis Tomaten-Metapher und andere Errungenschaften der Kunstgeschichte. Das Ergebnis ist ein Augenschmaus

Critchleys Fotografien wirken kaum weniger skulptural als Hellers Marmorblöcke

VON HENNING BLEYL

Herzschläge sind im Gerhard-Marcks-Haus selten zu hören. Hämmern, das schon, schließlich finden im Hof des Bremer Bildhauermuseums regelmäßig Workshops statt. Videoinstallationen hingegen gehören nicht zum Normalprogramm. Der Versuch, sich an Michelangelo, Europas bislang berühmtestem Bildhauer, abzuarbeiten, hat dem Marcks-Haus nun jedoch die erste Plastik in bewegten Bildern beschert: „Heartbeat“, eine gerade erst fertig gewordene Arbeit der 33-jährigen britischen Fotokünstlerin Emma Critchley.

Bei jedem „Wumm“ wird ein Frauenkörper sichbar. Die Wumms verlangsamen sich, das Herz wird ruhiger, die Bilder rarer. Malt ein Maler eine Tomate, so ist es ein Bild. Macht ein Bildhauer eine Tomate, sei es eine Tomate, lautet ein berühmtes Diktum von Arturo Martini – der seinerseits selbstverständlich Bildhauer war. Was aber wäre das Ergebnis einer rhythmisierten Video-Skulptur: pulsierende Tomatensuppe – oder Ketchup-Kunst?

Das Marcks-Haus sucht nach Antworten auf die Frage, wie Figürlichkeit entsteht. Dafür hat es neben Critchley auch Dietrich Heller sowie den jungen Bildhauer Athar Jaber eingeladen, dessen Eltern aus dem Irak kommen. Zeitgenossenschaft entsteht nicht nur dadurch, dass man junge, aus divergierenden Kontexten stammende KünstlerInnen ins Museum lädt. Sondern auch, indem man sie die Tradition bearbeiten lässt: „Michelangelo schultern“ heißt die Schau daher.

Jaber hat in Florenz studiert, Michelangelo also mit der bildhauerischen Muttermilch konsumiert. Seine marmornen Körper-Konglomerate, weiß leuchtende Blöcke voller Arme, Beine, Rücken und Bauchpartien, sind pralle Reminiszenzen an Michelangelos Prachtkörper – die freilich durch einen anti-anatomischen Fleischwolf gedreht wurden.

Einen entscheidenden Schritt weiter geht Dietrich Heller, der über eine Holzschnitzer-Ausbildung in Berchtesgaden zur Bildhauerei kam und an der Bremer Hochschule für Künste Altenstein-Adept wurde. Seither entwickelt Heller die Durchmischung der Dimensionen, ein spannungsreiches Miteinander von Flächen und Figürlichkeit. Eingeritzt, zum Teil tief eingeschnitten in die Gestalt seiner marmornen „Madonna“, sind skizzenhaften Gesichtszüge, wodurch eine Gleichzeitigkeit von Zwei- und Dreidimensionalitäten entsteht. Das Jesus-Gesicht verschmilzt mit dem der Mutter – eindringlicher kann das Sujet der Madonna, das kunsthistorische Sinnbild maximaler Innigkeit in der Mutter-Kind-Beziehung, kaum gestaltet werden.

Heller, der auch schon als Maschinenbau-Ingenieur gearbeitet hat, bedient sich dabei einer durchaus robusten Herangehensweise: Er arbeitet mit Flex, Pressluft und, wenn’s gar nicht anders geht, mit Zwei-Komponenten-Kleber. Damit hat er seinen Madonna-Block um die entscheidenden Zentimeter verlängert, um dem Proportionen des historischen Vorbilds gerecht werden zu können. Hellers Zwei-Komponenten-Madonna ruht auf einem tiefschwarzen Basalt. Ein heftiger Farbkontrast, den Heller durch geschickte Kanten-Setzung weiter akzentuiert: Der Sockel ist schräg, sodass er, aus einigen Meter Entfernung betrachtet, nicht mehr als physische Masse wahrnehmbar ist. Die Figurengruppe kippelt scheinbar auf der Kante, was den gewaltigen Block weiter dynamisiert.

Heller sucht die Wucht – und auf diesem Weg hat er das Holz weit hinter sich gelassen. „Das Material muss das Thema doppeln“, sagt Heller. Tod, Leben, Existenzialität: Für Heller ist das offenbar nicht zuletzt eine Frage der Materialdichte.

Steinbildhauerei ist ein hochenergetischer Vorgang – umso reizvoller ist ihre Kontrastierung mit einem scheinbar leichtfüßigen Medium wie der Fotografie. Das Erstaunliche an Emma Critchleys Arbeiten ist jedoch, dass sie kaum weniger skulptural wirken als Jabers Carrara oder Hellers Blöcke aus Unterberger Marmor. Die weiß glänzenden, von Critchley fotografierten Körper wirken seltsam deformiert und scheinen in unendlichem Schwarz zu schweben. Critchleys Kunstgriff: Sie fotografiert unter Wasser.

Die irreale Anmutung, die durch die submarine Herangehensweise entsteht, ist – wie könnte es in dieser Ausstellung anders sein – kunstgeschichtlich beziehungsreich. Ein gern zitierter, auf eine Fehlübersetzung des Kunsttheoretikers Giorgio Vasari zurückgehender Mythos lautet: Michelangelo habe seine Figuren sukzessive so aus dem Marmor geschält, wie sie in einem langsam leer laufenden Wasserbecken sichtbar würden. Im Marcks-Haus ist eindrücklich zu sehen, welch fantastische Bilder ein randvolles Becken ermöglicht. Eine Tomate ist eben eine Tomate ist eine Tomate.

„Michelangelo schultern“ im Marcks-Haus: bis 29. September