Der kackbraune Sessel

Ein Märchen von einem fleißigen Mühlstein, einem arbeitsscheuen Möbel, einer guten und einer bösen Fee

Es war einmal ein Mühlstein, der hatte sein ganzes Leben lang Korn zu Mehl gemahlen, das die Bauern zu der Mühle brachten, an dem er seinen Vollzeitarbeitsplatz hatte. Jetzt waren schon über hundert Jahre ins Land gegangen, und der Mühlstein hatte für seinen Ruhestand einen einzigen Wunsch. So gern wäre der Mühlstein ein Sessel gewesen. Ein gemütlicher Sessel mit halbrunder Rückenlehne und wulstigen Armlehnen, bespannt mit einem Stoff im bräunlichen Ekelfarbton.

Zufällig war eine gute Fee in der Nähe, als der Mühlstein eines Abends gerade mal wieder seufzte: „Ach wär ich doch ein Sessel, dann wär’s mir grad wohl zumute.“ Die Fee zögerte keine Sekunde, kam herbeigeflogen, nieste einmal wegen des Mehlstaubs und berührte den Mühlstein mit ihrem Zauberstab. „Dein Wunsch soll erfüllt werden“, säuselte sie. Es glitzerte ein bisschen, und aus dem Mühlstein war ein kleiner, robuster Sessel geworden, kackbraun und eine Tonne schwer. Leider steht dieser Sessel jetzt in meiner Wohnung. Und ich selbst habe ihn dorthin getragen.

„Wie mag das möglich sein?“, wirst du dich fragen, lieber Leser. Und ich frage mich das auch. Wie ist es möglich, dass ein Mann in der Blüte seiner Jahre durch die winterlich-herben Straßen seines Viertels spaziert, auf eine barocke Scheußlichkeit der Premiumklasse stößt und nicht zielsicher die Straßenseite wechselt, sondern nein. Er bleibt stehen, legt den Kopf schief, umkreist das Ungetüm, das jemand am Straßenrand zur gefälligen Verwesung abgestellt hat, und denkt bei sich: Das könnte doch ganz gut in meine kleine Leseecke passen. Und schon hat er das seltene Stück geschultert, die Bandscheiben knarzen, die Treppenstufen auch, und wumms, steht das Stück oben im vierten Stock. Mit einem Mal ist die Wohnung eng und klein geworden.

Horkheimer/Adorno haben vor vielen Jahren in den USA ihr Buch „Eclipse of Reason“ verfasst. Daran muss ich denken, wenn ich den Sessel sehe. Verdunkelung der Vernunft, das war es, was mir wiederfuhr, als ich mein Raubgut stolz und mit vielen guten Ideen für ein zeitgemäßes Rauminnendekor vor Augen in meine Höhle schleppte, wie mein Vorfahr einst das Mammut.

Jenes Standardwerk der Kritischen Theorie handelt vom Faschismus. Der ist, wie alle wissen, eine Massenbewegung gewesen. Völlig bewegungslos dagegen der Sessel. Er steht in der Ecke, lässt sich keine Millimeter wegrutschen. Als hätte er sich an den abgezogenen Dielen festgesaugt und einen Unterdruck erzeugt. Ich bin mir sicher, er wächst. Jeden Tag ein bis zwei Millimeter. In einer Woche bis zu 1,5 Zentimeter. In einem Monat bis zu 45 Zentimeter. In einem halben Jahr …

„Haben Sie Haustiere?“, werden mich die Vermieter fragen und dabei durchbohrend ansehen. Nein, nur einen braunen Sessel, der wächst. Und ich werde allmählich zerquetscht.

So weit durfte es nicht kommen. Entweder der Sessel oder ich. Da Sessel keine Kleininserate für gebrauchte Hausgegenstände aufgeben können, war ich am Zug: „Liebhaberstück zu verschenken. Exklusives Sitzmöbel für den Alleinsingle mit dem gewissen Sinn für Geschmack.“ Am Samstag verirrte sich dann tatsächlich ein myopisch veranlagter Herr um die 50 zu mir, ließ sich in den Sessel fallen, flatterte mit den Ellenbogen, um die Armlehnen zu testen, flüsterte liebevoll: „So schön braun“, und sagte zu mir: „Den will ich haben.“ Hurra, dachte ich.

Doch ein Problem gab es: Der Mann, der den Sessel wollte, konnte ihn nicht hochheben. Wie ein Ringer umschlich er das Ding, konnte es aber nicht schultern. Er lachte verlegen, als er sich verabschiedete: „Ist ja schwer wie ein Mühlstein.“ Wenn er gewusst hätte. Zum Glück gibt es im Märchen nicht nur gute Feen, sondern auch böse. In diesem Märchen hieß die böse Fee Müntefee. Die Müntefee hatte beschlossen, dass 100 Jahre Arbeitszeit für einen Mühlstein gar nichts sind, und so schwirrte sie mit einem fiesen hornissigen Ton im Flügelpaar landauf, landab, um juvenile Mühlsteine, die dachten, sie könnten sich im Vorruhestand suhlen, zurück an die Arbeit zu schicken. Eines Tages fand sie sich auch vor meiner Tür ein, ließ sich von dem Emailleschild „GEZ-Mitarbeiter werden ohne Warnung erschossen“ nicht beirren und klingelte. Als ich öffnete, schnurrte sie über meine Schulter hinweg ins Wohnzimmer und rief mit glockenheller, lieblicher Stimme: „Ei, wen haben wir denn da.“ Und dann, etwas weniger glockenhell: „Wenn du skrofulöser Wicht von einem Sozialschmarotzer bei drei deinen Alabasterarsch nicht in das nächste Mühlgestänge bewegst, dann wirst du das nächste Weihnachtsfest als Rollsplitt auf der A 3 verbringen. Los, oder muss ich erst unfreundlich werden?“

Puff, weg war der Sessel. Übrig blieb nur ein brauner Berg von Stoff, leer wie ein ausgezuzeltes Weißwursthäutchen. Ich habe es um Mitternacht bei Vollmond im Park verbrannt. Nichts gegen die Überzeugungskraft der Müntefee, aber Sessel können wie Brieftauben eine Wohnung, in der sie einmal waren, immer wieder finden.

Und die Moral von der Geschicht’: Manchmal ist die böse Fee die gute Fee, und alles, was unsere Regierung tut, ist wohlgetan. ROB ALEF