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Die Scham ist zu groß

WEITERBILDUNG Trotz vieler Kursangebote erreichen Volkshochschulen nur wenige Erwachsene, die nicht richtig lesen und schreiben können. Über Arbeitgeber und Kitas versuchen sie jetzt, mehr Kontakte zu knüpfen

VON JOACHIM GÖRES

In Deutschland gibt es rund 7,5 Millionen sogenannte „funktionale AnalphabetInnen“ – so das Ergebnis des Forschungsprojekts „Leo – Level-One Studie“ aus dem Jahr 2011, das den Grad der Literalität der deutsch sprechenden Bevölkerung untersucht. Funktionale AnalphabetInnen sind, laut Mitherausgeberin Professorin Anke Grotlüschen von der Uni Hamburg, nicht in der Lage, zusammenhängende Texte zu lesen und zu schreiben.

„Wenn man diese Zahl auf den Landkreis Aurich umrechnet“, sagt Ralf Nickel von der Kreisvolkshochschule Norden, „müssten hier 16.000 Betroffene leben. Unsere Kurse besuchen aber nur 80 Menschen.“ Die meisten kämen nicht von alleine: „Sie schämen sich.“ Nickel berichtet von einem VW-Arbeiter, der sich schon für einen Alphabetisierungskurs angemeldet hatte und dann einen Rückzieher machte, weil der Kurs von einem Kollegen besucht wurde. Die Angst, im Betrieb geoutet zu werden, ist riesengroß – mehr als die Hälfte der funktionalen Analphabeten sind berufstätig.

Seit 2012 gibt es an den Volkshochschulen Hannover, Braunschweig, Oldenburg, Osnabrück und Lüneburg Grundbildungszentren, die neue Modelle zur Alphabetisierung ausprobieren, um so mehr Betroffene zu erreichen. In Hannover versucht man, Kontakte über die Arbeit zu knüpfen. Da 40 Prozent aller Reinigungskräfte nach der Leo-Studie als funktionale Analphabeten gelten, befragte man die 300 Beschäftigten der kommunalen Gebäudereinigung zu ihren Bildungswünschen. Jeweils rund 50 Personen, viele davon mit Migrationshintergrund, wollten gerne ihre Computerkenntnisse sowie ihren Wortschatz und ihre Rechtschreib- und Grammatikkenntnisse verbessern. 20 Frauen nahmen schließlich 15 Wochen lang an extra für sie organisierten Kursen teil. „Jetzt können sie chatten und skypen und so besser Kontakte pflegen“, sagt Maren Gühne-Gecks, pädagogische Mitarbeiterin an der VHS Hannover.

„In den Betrieben muss es Anweisungen in leichter Sprache geben, auch Piktogramme können verwendet werden“, sagt Stephanie Voß-Freitag von der VHS Region Lüneburg. Sie hat in einem kommunalen Pflegeheim für die Beschäftigten einen Workshop organisiert, in dem sie ihre Wünsche rund um das Thema Lesen und Schreiben formulieren konnten. Zwölf von 60 Frauen, in erster Linie Putzpersonal und Altenpflegehelferinnen, nahmen daran teil. „Manchmal verstehe ich gar nicht, um was es da geht, wenn ich etwas dokumentieren muss“: Das ist ein Satz, den Voß-Freitag häufiger hörte. Außerdem bietet die VHS in einem Stadtteilzentrum ein Computercafé an, in dem Interessierte selbstständig mit einem Lernprogramm üben können. „Innerhalb von einem Jahr haben wir damit 40 Personen erreicht. Niemand von ihnen ist aber in einen Alphabetisierungskurs gegangen. Wir haben es nicht geschafft, die Teilnehmer dauerhaft zu binden“, so Voß-Freitag.

Die VHS Oldenburg bietet Materialien für Kursleiter und Betroffene an, so z.B. den „Beluga-Selbstlernkurs“ für Maler und Lackierer sowie für Pflegekräfte. Dort finden sich auch Filmausschnitte, in denen Erwachsene mit Schreib- und Leseproblemen von ihren Erfahrungen berichten. In einer Oldenburger Kindertagesstätte lädt die VHS Mütter ein, sich mit dem Thema Lesen und Schreiben zu beschäftigen, damit sie ihre Kinder besser fördern können. „Wir sprechen über die Kinder, aber auch über die eigenen Bildungswünsche. Die Frauen lernen Reime und Lieder kennen und basteln Bilderbücher. Das Thema Lernen gewinnt so an Bedeutung. „Eine der acht Frauen besucht jetzt einen Alphabetisierungskurs“, berichtet Gruppenleiterin Kathleen Bleßmann.

Während die meisten Volkshochschulen ihre Kurse nur mit Mühe voll bekommen, steigt die Nachfrage an der VHS Oldenburg an. „Das hat auch damit zu tun, dass es in Oldenburg eine von bundesweit vier Selbsthilfegruppen gibt, die mit dem Thema an die Öffentlichkeit geht. Zu ihnen kommen Menschen, denen die Selbsthilfegruppe einen Alphabetisierungskurs bei uns empfiehlt. Alleine würden wir sie nicht erreichen“, sagt Achim Scholz von der VHS Oldenburg.

„Wir wollen unser Gesicht zeigen. Nur so kann man etwas erreichen. Wir haben uns lange genug versteckt“, so Ernst Lorenzen, Mitbegründer der Oldenburger ABC-Selbsthilfegruppe. Er versteht, dass sich viele nicht trauen, ihre Probleme zuzugeben: „Das Wort ‚Analphabet‘ stört mich. Das muss raus aus den Köpfen, weil es ein Schimpfwort ist und negativ klingt.“ Ein weiterer Punkt, der viele Betroffene ärgert: Bei der Jobsuche erleben sie nicht selten, dass Vermittler der Arbeitsagentur mit Leistungskürzungen drohen, weil sie vermuten, dass ihr Gegenüber sich nur vor der Arbeit drücken will. „Personen werden aufgefordert, ihren Namen zu schreiben und sie schlagen ihren Pass auf und malen ihn einfach ab. In den Jobcentern fehlen die nötigen Fachkenntnisse, um beurteilen zu können, ob jemand lesen oder schreiben kann“, sagt Birgit Schwier-Fuchs von der VHS Celle.

Die 59-jährige Bärbel Kitzing besucht regelmäßig die Selbsthilfegruppe Oldenburg. Sie ist berufstätig und arbeitet als Raumpflegerin in Büros. Ihre Anweisungen bekommt sie mündlich. Mit dem Auto fährt sie zu immer wieder neuen Einsatzorten in der Region. „Bei einer neuen Strecke musste mich immer jemand einmal begleiten. Danach konnte ich mir den Weg merken. Wer nicht lesen kann, der schärft seine anderen Sinne.“ Als sie vor sieben Jahren ihren Enkelkindern eine Geschichte vorlesen sollte, da entschloss sie sich, einen Alphabetisierungskurs zu besuchen. „Heute kann ich vorlesen“, sagt sie stolz.

Infos für Betroffene gibt es beim Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung: www.alphabetisierung.de.

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