Kulturhauptstadtfinale in Brüssel

Görlitz und Essen sind die beiden Städte, die im innerdeutschen Wettlauf um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2010 übrig blieben. Übermorgen fällt nun die Entscheidung, wer das Rennen macht. Zwei Plädoyers von Parteiischen

Der Ruhrpott, das sind Ruinen und Schmuckkästchen, Urbanität und Provinz, Hochkultur und Boulevard

Aus dem Nähkästchen zu plaudern ist unschicklich, vor allem, wenn man in einer Jury sitzt, die Dinge von nationaler Bedeutung zu klären hat. Adolf Muschg, bis vor kurzem noch Präsident der Berliner Akademie der Künste, hat sich als Schweizer Schriftsteller über diese Benimmregel hinweggesetzt. Das ostsächsische Görlitz, das sich als eine von zehn deutschen Städten um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2010 bewarb, hatte das Jurymitglied Muschg bejubelt, da war die Auswahl kaum getroffen: „Wir waren in sie vernarrt gewesen, und am Ende gestanden wir es uns wie eine heimlich geteilte Liebe.“

Wie Adolf Muschg geht es jedem, der Görlitz, das Architekturjuwel an der Neiße mit seinen 3.600 Baudenkmalen aus Gotik, Renaissance, Barock und Gründerzeit, zum ersten Mal besucht. Staunen, staunen, nichts als staunen. Der Schriftsteller Wolfgang Büscher, sonst eigentlich nicht der Schwelgerei verdächtig, notierte auf seiner Wanderung „Deutschland, eine Reise“ jene Sätze, die das Überwältigtsein von Görlitz auf den Punkt bringen: „Die Schönheit dieser Stadt war wie ein Schlag auf die Augen.“ Und weiter: „Die abgedroschenen Gedichte, sie sind alle wahr.“

Doch es war nicht einmal die Schönheit von Görlitz, gegenüber der die anderen deutschen Mitbewerber blass aussahen. Wer Deutschland 2010 neben dem ungarischen Pécs als europäische Kulturhauptstadt vertreten darf, sollte, so die deutsche Jury, vor allem die kulturellen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts im Blick haben.

So kam es, dass am Ende nur zwei Städte übrig blieben: Görlitz und Essen. Essen, weil es stellvertretend für das Ruhrgebiet den Umbau einer Industrie- zur Kulturlandschaft thematisiert. Und Görlitz, weil es zusammen mit seiner polnischen Teilstadt Zgorzelec am andern Ufer der Neiße für das Zusammenwachsen zweier Städte und Kulturen in Europa steht.

Letzteres ist zweifelsohne das spannendere, wenn auch schwierigere Unterfangen, wie sich einer weiteren Plauderei von Adolf Muschg entnehmen lässt. „Die polnische Stadt“, schreibt dieser über den Kobewerber Zgorzelec, „ist so verschlissen, wie man sich Städte im Osten vorstellt, und die Front, die es der Neiße zukehrt, lückenhaft wie ein ungepflegtes Gebiss.“

Genau an dieser Nahtstelle zwischen Anmut und Verschleiß, die zugleich eine Nahtstelle ist zwischen Abwanderung und Babyboom, Sozialstaat und Turbokapitalismus, „altem“ also und „neuem“ Europa, setzt die Görlitzer Kulturhauptstadtbewerbung unter der künstlerischen Leitung von Peter Baumgardt an. Mit einem „Brückenpark“ sollen das deutsche und polnische Neißeufer zu einem gemeinsamen Stadtraum entwickelt werden, in dem die Kultur Vorfahrt hat. Im Mittelpunkt des Vorhabens steht der Neubau eines „Forums for Arts & Media“, der zwischen den beiden Brücken über die Neiße eine neue Verbindung schaffen soll. „Zwischen Berlin und Prag, Leipzig und Breslau gibt es bislang keine Kunsthalle für moderne und zeitgenössische Kunst“, sagt dazu Kulturhauptstadt-Projektleiter Gerhard Müller und beschreibt ganz nebenbei das Einzugsgebiet, in dem sich Görlitz und Zgorzelec mit ihrer gemeinsamen Bewerbung als „Europastadt“ sehen.

Nur, muss man in diesen so schwierigen deutsch-polnischen Zeiten fragen: Ist diese Rechnung auch mit dem Wirt gemacht? Die Antwort lautet: Jein. Zwar hat die neue polnische Regierung erst vor kurzem der gemeinsamen Bewerbung von Görlitz und Zgorzelec den Segen erteilt. „Auf der polnischen Seite“, räumt Janusz Przybyla vom Verein „Europera“ in Zgorzelec aber ein, „interessiert die Kulturhauptstadt Europas niemanden.“ Das gelte nicht nur für die Politiker in Warschau, sondern auch für die meisten Bewohner von Zgorzelec. „Das Positivste, was man zu hören bekommt, ist: Wenn es dafür Geld gibt, warum auch nicht.“

Was für manch einen in der neuen, siebenköpfigen Jury in Brüssel ganz und gar provinziell erscheinen mag, mag für andere wiederum eine Herausforderung sein. Dies umso mehr, als zur schwierigen Situation an der deutsch-polnischen Grenze noch die wirtschaftliche Randlage kommt, mit der beide Städte in ihren Ländern zu kämpfen haben. „From the Middle of Nowhere to the Heart of Europe“, wie der gemeinsame Präsentationsfilm heißt, ist da schon ein Argument, das überzeugen kann, auch wenn dieses „europäische Herz“ es in Sachen Infrastruktur, Bekanntheit und Erreichbarkeit sicher nicht mit Essen und dem Ruhrgebiet aufnehmen kann.

Als Außenseiter wollen sich die Görlitzer und Zgorzelecer dennoch nicht sehen, eher als Enthusiasten, die schon heute neue Wege gehen. Ein zweites Vorhaben neben dem „Brückenpark“, das zur Not auch ohne den Zuschlag aus Brüssel verwirklicht werden soll, ist eine Ausstellung mit dem Titel „Via regia“. So hieß einst der Handelsweg von West- nach Osteuropa, der Görlitz im Mittelalter reich machte. Heute steht der „Königsweg“ aber auch für all jene Hoffnungen und Befürchtungen, die in diesem Teil Europas mit der Nachkriegsgeschichte bis zur Erweiterung der Europäischen Union verbunden werden. Verschlug es die Bewohner von Görlitz und Zgorzelec einst als deutsche und polnische Vertriebene an beide Ufer der Lausitzer Neiße, haben sie sich die fremden Städte nunmehr zur Heimat gemacht – und Niederschlesien ganz nebenbei zu einer europäischen Brückenregion.

So ist die Görlitzer und Zgorzelecer Bewerbung zweifelsohne eher ein kulturpolitisches denn ein kulturelles Unterfangen. Aber vielleicht bringt genau dieses bei der Präsentation in Brüssel wieder die Überraschung und den Zauber jener „heimlich geteilten Liebe“ hervor, die schon der Schweizer Adolf Muschg und die deutschen Juroren an der Neiße gefunden hatten.

aus Görlitz UWE RADA

Die letzte Runde ging verloren. Die Jury sprach von Masse statt Klasse, von einer uninspirierten Großbewerbung. Auch taten sich die Wertungsrichter schwer, ein Stadtkonglomerat, keine Einzelstadt zu küren. So klang es, als das Ruhrgebiet vor wenigen Wochen als „Stadt der Wissenschaften 2007“ bereits in der Vorrunde ausschied. Dass auch die Kandidatur zur Europäischen Kulturhauptstadt 2010 durchfallen könnte, mag sich in der Städtestadt zwischen Duisburg und Dortmund niemand ausmalen.

Denn Essen – das stellvertretend für das Ruhrgebiet in der Endausscheidung steht – hat einen Lauf: Erst wurde abgestimmt, ob Essen oder Bochum das Revier anführen solle. Essen siegte knapp. Dann setzte sich die Ruhrstadt gegen zwei Mitbewerber aus Nordrhein-Westfalen durch. Münster und Köln hatten bei der angereisten Fachjury keine Chance gegen den Ruhrpott, mit seinen Kontrasten aus Ruinen und Schmuckkästchen, aus Urbanität und Provinz, Hochkultur und Boulevard. Die Mischung begeisterte dann auch die Juroren bei der nationalen Vorausscheidung. Mit Fachbesuchern hat Essen also gute Erfahrungen gemacht – nun muss die Bewerbung am 15. März auch beim Auswärtsspiel in Brüssel überzeugen.

Und tatsächlich ist es der fremde Blick, der fürs Ruhrgebiet und seine 53 Städte und 5,3 Millionen Einwohner spricht. Das, was das Jahrhundert der Schwerindustrie zurückgelassen hat, ist gerade denen eine atemberaubende Kulisse, die von außen kommen. Die Einwohner mögen sich an den seit den 1980er-Jahren zur Industriekultur umfunktionierten Produktionsstätten satt gesehen haben. Für Auswärtige bilden die Überreste von Stahlwerken, Zechen, Kokereien eine grandiose Kulturlandschaft, geschaffen von einer entfesselten Industrie. Und diese Trumpfkarte spielt die Ruhrgebietsbewerbung kräftig aus.

So kreist alles ums Weltkulturerbe Zeche Zollverein, dieses längst in den Konstrukteurskanon aufgenommene kantige Koks- und Kohlenensemble im Essener Norden. Wenn Europa zuschaut, soll es dort wieder unter Tage gehen, zusammen mit der amerikanischen Lichtautorin Jenny Holzer 1.000 Meter hinunter in die „zweite Stadt“. Dem Dreiklang aus Kohle, Gas und Stahl will eine kulturgeschichtliche Schau nachgehen mit dem etwas martialischen Namen „Schwerkraft“.

Auch die kulturelle Umwidmung von Orten soll bis 2010 fortgesetzt werden: der Ruhrschnellweg als befahrbare Galerie, auf dem Kettwiger Ruhrstausee schwimmen Kunstatolle, und ein schmaler Streifen Neuland zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal soll Experimentierfeld werden, ein Platz für Pioniere. Fast alles übrigens Projekte, die auch ohne den Zuschlag zur Kulturhauptstadt ihre Chance bekommen.

In diesem großen, aber übersehenen Ballungsraum Mitteleuropas dürfen Prominente nicht fehlen. Die Tanzikone Pina Bausch lieh der Kampagne schon mal eine Choreografie. Filmemacher Sönke Wortmann dreht einen Imageclip. Und auch der Komponist Karlheinz Stockhausen steht in den Startlöchern: Er will sich hier an der europäischen Gesamtaufführung seines Weltentwurfs Licht versuchen. Hochkultur in einer Region, die durch Ruhrtriennale und Ruhrfestspiele und eine unüberschaubare Vielzahl von Theatern und Bühnen längst Standort herausragender Kulturereignisse und Kulturwirtschaft ist. Und doch: Mit dem Titel Kulturhauptstadt würde der Wandel zum Kulturgebiet ins Rampenlicht gesetzt.

Strukturwandel, der Begriff begleitet das Ruhrrevier seit einem halben Jahrhundert. Wie ein Fluch kommt die Gegend nicht heraus aus den Altlasten: Mehr Arbeitslose, überalternde Bevölkerung, Jugend mit schlechter Ausbildung. Damit steht das Revier nicht allein, aber dort, wo sie in Europa mit ähnlichen Umwälzungen zu tun hatten – in Lille oder in Glasgow –, hat das europäische Hauptstadtjahr besonderes viel Kraft entfalten können. Das Motto „Glasgowsmilesbetter“ richtete sich gerade nach innen.

Vielleicht liegt dort auch der Schwachpunkt einer Bewerbung, die auf den Schultern der heimischen Energiekonzerne RAG, EON, RWE, der WAZ-Gruppe und Geldinstituten steht. Es sind die üblichen Verdächtigen, die hier Macht und öffentliches Leben seit Jahrzehnten verwalten. Dass es ihnen schwer fällt, Begeisterung zu entzünden, mögen die Imagekampagnen nach innen belegen, die mitunter an SPD-Wahlwerbung unter Genossen erinnern. So standen in den Regionalblättern hunderte Liebeserklärungen fürs Gebiet, so verhüllten tausende Porträtfotos die RAG-Zentrale, als müssten die Ruhrgebietsbewohner noch überzeugt werden.

Sie sollten lieber über die außen kommen. Die Gegend bewundern lassen, den Wandel, Aufbruch und Abbruch. Von der Kraft des fremden Blicks wissen offenbar auch die Organisatoren vom Siedlungsverband der Ruhrkommunen: Das Ruhrgebiet, behaupten sie, sei die einzige bundesdeutsche Stadtregion, die noch im Weltraum auszumachen sei. Den Juroren in Brüssel kann das kaum entgehen.

aus Essen CHRISTOPH SCHURIAN