Der Ethnologe und seine Boygroup

MILLI GÖRÜS Die Reformer haben die islamistische Bewegung Milli Görüs übernommen, behauptet Werner Schiffauer in seinem neuen Buch

Die Postislamisten, wie Schiffauer die Reformer nennt, bildeten nie die Mehrheit

VON EBERHARD SEIDEL

Werner Schiffauer ist ein umstrittener Ethnologe. Sein Forschungsschwerpunkt ist das Türkische im Allgemeinen und das Türkisch-Abnorme im Besonderen. Bekannt wurde er 1983 mit der Studie „Die Gewalt der Ehre. Erklärung zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt“. In diesem Frühwerk versucht er, eine Vergewaltigung in Berlin-Neukölln aus der anatolischen Dorfkultur abzuleiten und verstehbar zu machen. Ein zweifelhaftes Unterfangen. Nun legt er sein Opus magnum vor: „Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs“.

Wie ein Mantra wiederholt Schiffauer seit zehn Jahren in Interviews, Zeitungsartikeln und Aufsätzen: In der islamischen Gemeinschaft Milli Görüs hätten demokratische Reformer die Führung übernommen, die umstrittene Organisation sei nicht mehr islamistisch, sondern „postislamistisch“. Milli Görüs sei in der Demokratie angekommen, habe den aggressiven Antisemitismus überwunden und einen europäischen Islam erarbeitet. Mit diesen flotten Thesen und der Behauptung, bei Milli Görüs laufe es wie bei den verirrten Bürgerkindern der 60er- und 70er-Jahre, die nach extremistischen Ausflügen zur Demokratie gefunden haben, punktete Schiffauer. Viele wünschten, das Märchen „Verirrte Migranten finden auf den richtigen, rechtsstaatlichen Weg“ möge wahr sein.

Eloquente Funktionäre

Aber das echte Leben ist anders als Schiffauers Erzählung. Milli Görüs ist eine länderübergreifende islamistische Bewegung, die historisch, ideologisch und organisatorisch eng mit dem türkischen Politiker Necmettin Erbakan verbunden ist. Die von der Bewegung propagierte „gerechte Ordnung“ umfasst eine auf dem Islam basierende Ideologie, die alle Lebensbereiche umfasst: Wissenschaft, Justiz, Wirtschaft und Bürokratie.

Milli-Görüs-Funktionäre sind keine bärtigen, islamistischen Finsterlinge, sondern dem Leben zugewandte, mitunter eloquente und sympathische Menschen. Trotzdem sind die schwärmerischen Auslassungen Schiffauers und die behauptete Dominanz der klugen, aufgeschlossenen Funktionäre ärgerlich.

Während der Professor bereits Ende der 1990er-Jahre einen radikalen, demokratischen Kurswechsel bei Milli Görüs ausmachte, herrschte vielerorts noch eine ganz andere, zum Teil recht bedrohliche Lage. Milli-Görüs-Aussteiger wurden unter Druck gesetzt, bisweilen körperlich misshandelt; tausende von einfachen Mitgliedern wurden von islamistischen Holdings mit tatkräftiger Unterstützung von Milli-Görüs-Funktionären um ihre Ersparnisse geprellt; Journalisten, die über diese Machenschaften und über die Vernichtung von Existenzen berichteten, wurden eingeschüchtert und mit Prozessen überzogen.

Schiffauer haben diese Niederungen wenig interessiert. Das nun erschienene Buch „Nach dem Islamismus“ offenbart, auf welch schmaler empirischer Basis die Thesen zur Modernisierung und Reformierung der IGMG standen und bis heute stehen. Der Leser erfährt nichts zur organisatorischen Größe und Struktur, der ökonomischen Potenz, dem Netzwerk und seinen Schnittmengen mit radikaleren Formen des Islamismus. Kein Wunder, denn die Informationen zur vermeintlichen Neuausrichtung von Milli Görüs stammen fast ausnahmslos von Mehmet Sabri Erbakan, dem Neffen des Gründers der Bewegung, der bereits 2002 seine Führungsämter wegen angeblicher „moralischer Verfehlungen“ niederlegen musste, dem stellvertretenden Generalsekretär Mustafa Yeneroglu und dem Generalsekretär Oguz Ücüncü. Gegen Letzteren ermittelt die Staatsanwaltschaft im Augenblick unter anderem wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung.

Schiffauer erliegt dem Charisma und dem Charme dieser drei Alphatiere und damit dem Berufsrisiko der Ethnologen – Mangel an Distanz zum Forschungsobjekt. Im steten Austausch mit seiner Boygroup konstruiert Schiffauer einen Reformislam nach eigenem Gusto. Das sind mitunter interessante Gedankenspiele, nur mit der Wirklichkeit in den Gemeinden, die sich bis auf wenige Ausnahmen immer noch von der Mehrheitsgesellschaft abschotten, hat das recht wenig zu tun.

Die Postislamisten, wie Schiffauer die Reformer nennt, hatten niemals eine Mehrheit bei Milli Görüs. Ihr Einfluss ist begrenzt, vor allem bei der jüngeren Generation. Auch er kommt nicht umhin, dies nach zehn Jahren teilnehmender Beobachtung kleinlaut einzuräumen und damit seine Thesen zu relativieren. Wie kommt das? Am Ende seiner Ausführungen landet Schiffauer da, wo alle enden, deren Analysekraft Grenzen hat – bei Verschwörungstheorien: Schuld hat die Mehrheitsgesellschaft, die Milli Görüs nicht einfach in die Arme schließt.

Werner Schiffauer: „Nach dem Islamismus“. Suhrkamp, Berlin 2010, 391 Seiten, 15 Euro