: Der Blick von Mitteleuropa
MUSIKFEST BERLIN Vor 100 Jahren wurde der polnische Komponist Witold Lutoslawski geboren. Wie seine älteren „Nachbarn“ Béla Bartók und Leos Janácek schuf er ein höchst individuelles modernes Werk
Zum 100. Geburtstag des polnischen Komponisten Witold Lutoslawski führt das Musikfest Berlin einige seiner Hauptwerke auf, darunter das „Konzert für Orchester“ (6. 9.), die „Jeux Venitiens“ (8. 9.) und die Symphonie Nr. 3 (9. 9.). Lutoslawski wird dabei mit Komponisten kombiniert, die ihn inspirierten, etwa Béla Bartók und Leos Janácek. Benjamin Britten, der im November 100 Jahre alt geworden wäre, erhält einen weiteren Schwerpunkt.
■ Musikfest Berlin, 30. 8.–18. 9., www.berlinerfestspiele.de
VON TIM CASPAR BOEHME
Sein Name mag heute nicht mehr ganz so geläufig sein wie noch zu seinen Lebzeiten. Doch Witold Lutoslawski zählt zu den bedeutendsten Komponisten der Moderne. Vor 100 Jahren in Warschau geboren, entwickelte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der führenden Avantgardisten des Ostblocks. Das Musikfest Berlin widmet ihm zu seinem Jubiläum daher einen Schwerpunkt im Programm.
In Lutoslawskis Werk und Biografie haben die politischen Umbrüche im Europa des 20. Jahrhunderts deutliche Spuren hinterlassen. So bekam er die Rigidität des Sozialistischen Realismus im stalinistischen Polen der Nachkriegszeit schon früh am eigenen Leib zu spüren: Seine 1. Symphonie von 1947 wurde als „formalistisch“ verboten. Um weiterhin als Komponist arbeiten zu können, sah sich Lutoslawski genötigt, in Werken wie dem 1954 vollendeten „Konzert für Orchester“ auf folkloristische Elemente zurückzugreifen.
„Lutoslawski wächst in einem sehr repressiven System auf, in dem die Bezugnahme auf sogenannte Scheintraditionen, am besten bäuerliche oder Arbeitertraditionen, Verpflichtung wird“, so Winrich Hopp, Künstlerischer Leiter des Musikfests Berlin. „Das ist genau der Punkt, an dem er mit dem ‚Konzert für Orchester‘ noch steht. Der Folklore-Anteil darin ist eindeutig der Versuch, den Kriterien des Sozialistischen Realismus ein bisschen gerecht werden zu können.“
Stalin war ein Jahr vor Fertigstellung des „Konzerts für Orchester“, das zu den frühen Meisterwerken des Komponisten zählt, gestorben. Das damit einsetzende kulturpolitische Tauwetter führte in Lutoslawskis Fall zu einer radikalen Kehrtwende. „Nach dem ‚Konzert für Orchester‘ macht Lutoslawski einen totalen Cut und fängt an, diesen ganz neuen Stil für sich zu entwickeln, eine abstrakte Musik, die an nichts erinnert“, beschreibt Hopp die Zäsur. „Er versucht autonome Formen zu finden, die eigentlich geschichtslos sind, als eine Haltung, dass er diese Form von Geschichte und Repression ablehnt.“
Ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin ist die Begegnung mit der Aleatorik des US-amerikanischen Komponisten John Cage. Dessen Verwendung von Zufallsoperationen beim Komponieren inspirierte Lutoslawski zu einer „kontrollierten Aleatorik“, die den Instrumentalisten in einzelnen Passagen bestimmte Freiräume zur Interpretation lässt. Die „Jeux Venitiens“ von (1961) sind sein erstes Werk, in dem er diese Technik anwendet, die später zu einem seiner Markenzeichen wird.
Wenn Lutoslawski jetzt im Programm des Musikfests unter anderem mit dem Ungarn Béla Bartók und dem tschechischen Komponisten Leos Janácek kombiniert wird, könnte man darin eine leichte Ironie sehen – immerhin ist für deren Musik eine starke Hinwendung zu folkloristischen Traditionen charakteristisch. Doch soll Lutoslawskis Werk keinesfalls in irgendeine – bestehende oder konstruierte – Tradition eingebunden werden. Vielmehr verbindet Bartók und Janácek mit Lutoslawski ein höchst moderner Zug, wie Hopp hervorhebt: „Bei Bartók und Janácek geht es darum, eine Musik zuzulassen, die eigentlich aus dem System der Kunstmusik exkludiert gewesen ist. Wenn man sagt, Bartók habe versucht, einen eigenen Anschluss an die Moderne zu finden, habe aber die Volksmusik oder die Bauernmusik genommen, weil er diesen Bruch nicht machen wollte, ist das falsch. Weil es eine ganz andere Tonalität ist, die er da findet. Das sind echte Neugründungen.“
Zu Béla Bartók gibt es bei Witold Lutoslawski zudem noch direktere Verbindungen, denn einige seiner Werke sind ausdrücklich dem Ungarn gewidmet oder verweisen unüberhörbar auf ihn. So orientiert sich Lutoslawskis „Konzert für Orchester“ an der gleichnamigen, berühmten Komposition Bartóks, die dieser 1943 im US-amerikanischen Exil geschrieben hatte. Und Lutoslawskis „Trauermusik“ von 1958 trägt die Widmung „In Memoriam Béla Bartók“, auch wenn der Komponist hier schon längst mit folkloristischen Ansätzen gebrochen hatte und stattdessen die Zwölftontechnik erkundete.
Dass Witold Lutoslawski rasch Anschluss an die Avantgarde-Zirkel des Westens fand und dort bald große Bekanntheit erlangte, lag nicht zuletzt am „Warschauer Herbst“, den der Komponist mitgegründet hatte. „Das war lange Zeit das eigenständigste Musikfestival im Ostblock, das auch die Möglichkeit hatte, Kontakt mit Westeuropa zu halten“, erklärt Festival-Leiter Winrich Hopp. „Witold Lutoslawski war als Komponist, der reisen konnte, in unserem damaligen westeuropäischen Komponisten-Musiksystem eine wichtige Stimme aus dem Osten.“
Diese Stimme verstummte wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Anfang 1994 starb Lutoslawski in seiner Geburtsstadt Warschau. Sein Werk jedoch hat den Ostblock allemal überlebt.
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