Dies ist nicht die Wirklichkeit

Low Budget und Semiprofessionalität als Königsweg zu aufregendem Kino: An der Pompeu-Fabra-Universität in Barcelona wird der Studiengang „Documental de creación“ (schöpferischer Dokumentarfilm) angeboten – mit ästhetischem Gewinn

Die Studenten eignen sich Kenntnisse an, indem sie am Filmprojekt eines erfahrenen Regisseurs mitarbeiten

von JULIA MACHER

Ein strahlender Herbsttag in der spanischen Provinz Soria. Zwei Greise harken ein Grab. Leise unterhalten sie sich über die richtige Grubentiefe, die Verfallsdauer von Haaren – und unversehens wird aus ihrem Gespräch eine philosophische Grundsatzreflexion über Tod, Leben und den kreisförmigen Verlauf der Zeit. Mercedes Álvarez’ Film „El cielo gira“ („Der Himmel dreht sich“), ein poetisches Porträt über die letzten 14 Bewohner von Aldealseñor, dem Heimatdorf der Regisseurin, war in Spanien im letzten Jahr der Dokumentarfilm mit den meisten Zuschauern. Der 40-jährigen Filmemacherin brachte er hymnische Huldigungen und Preise in Buenos Aires, Rotterdam und Paris ein – jetzt dient ihr „El cielo gira“ als Unterrichtsmaterial.

Wie sie die Greise zum Philosophieren brachte? Mercedes Álvarez stoppt das Videoband und erzählt von ihrem sechsköpfigen Team und von dessen „Talent, sich unsichtbar zu machen“, der weit entfernten Kamera mit dem Teleobjektiv – und dem Honorar und den locker gefassten Regieanweisungen an die Protagonisten: „Ich habe Themen, von denen ich wusste, dass über sie gesprochen wird, vorgegeben. Weder wollte ich das Leben in flagranti erwischen noch es reproduzieren.“ Die Studenten im Hörsaal der Universidad Pompeu Fabra nicken und schreiben mit.

„Documental de creación“ – „schöpferischer Dokumentarfilm“ heißt der zweijährige Studiengang. Ein ziemlich vager Titel, der sich einer strengen Genrezuweisung ebenso verweigert wie die zwölf Filme, die seit 1998 im Umfeld dieses cineastischen Labors entstanden sind. Da finden sich Milieustudien in Spielfilmoptik ebenso wie raffinierte Vexierspiele, in denen die Spielszenen wahrhaftig sind und das Archivmaterial gespielt ist. Dass Leben inszeniert sein will und Realität eine Konstruktion ist, gilt hier als Binsenweisheit. Die Hälfte der von den Studierenden gedrehten Filme wurden in den letzten Jahren auf internationalen und nationalen Festivals mit Preisen ausgezeichnet. Ein beachtliches Ergebnis für einen Studiengang, dessen Gründer vor acht Jahren mit revolutionärem Anspruch behaupteten: „Ein anderes Kino ist möglich.“

„Die Zeit war einfach reif dafür“, sagt der Direktor und Mitbegründer Jordi Balló, „das Publikum wollte etwas anderes sehen als die üblichen spanischen Genrefilme, und gleichzeitig wuchs eine Generation neuer Filmemacher heran mit einem frischen Blick auf die Wirklichkeit.“ Der Studiengang ist der Spielplatz, auf dem dieser Nachwuchs unter wohlwollender Aufsicht Sandburgen bauen oder zumindest mithelfen darf. Angeleitet von Altmeistern oder Absolventen arbeiten die Studenten, neben der Entwicklung eines eigenen Projekts, an der Produktion eines Films mit: eine Form von Pupil-Teacher-Partnership, die von Beginn an ziemlich erfolgreich war. José Luis Guerins zweieinhalbstündige Milieustudie „En Construcción“ („In Bau“, 2000) über das Stadtviertel El Raval reüssierte als erster Dokumentarfilm überhaupt auf dem Filmfestival in San Sebastián. Verwundert rieb sich die Kritik angesichts dieser Mischung aus Sozialstudie und Spielfilm die Augen: Wie war es möglich, dass Bauarbeiter, Junkies und vor Ort gecastete Stadtstreicher sich professioneller vor der Kamera bewegten als manche Schauspieler? Dass Guerín 18 Monate drehen konnte und so genug Zeit für eine behutsame Charakterentwicklung gemeinsam mit seinen Protagonisten hatte, registrierte die Branche, die das Motto „time is money“ erfunden hat, einigermaßen erstaunt.

„En construcción“ ist jedenfalls der Film, den Balló im Hinterkopf hat, wenn er apodiktisch verkündet: „Geschichte wird von vorne nach hinten geschrieben.“ – „Wir wollten eine Tradition jenseits des Etablierten begründen – und dazu brauchten wir gute Filme, auf die wir uns später berufen konnten.“ Barcelona als Geburtsstätte eines neuen Kinos? Nur zu schön fügt sich das ins Klischee von der sich ständig neu erfindenden und dabei latent widerständigen Mittelmeermetropole. Allerdings hat das einen prosaischen Grund: Im Gegensatz zur Hauptstadt Madrid mit ihrer konsolidierten Filmindustrie ist Barcelona cineastisches Hinterland. Die katalanischen Filmemacher sind den Umgang mit knappen Mitteln gewohnt und darum neuen Produktions- und Kooperationsmodellen gegenüber aufgeschlossen. Die Rechnung etwa, die Guerín und später auch Álvarez die lange Drehzeit ermöglichte, hat sich im Rahmen des Studiengangs fast schon etabliert: Bescheidenes Equipment plus ein kleines, semiprofessionelles Team ergibt mehr Drehzeit. Bei dieser Produktionsarithmetik ist der Summand Team noch mit dem Faktor Motivation und Loyalität zu multiplizieren: Wer über 5.000 Euro Gebühren für einen Studiengang bezahlt und unbezahlt einem Projekt zuarbeitet, möchte zumindest seinen Namen im Abspann lesen.

Einen wesentlichen Anteil am umtriebigen Schaffen hat ein Mann, der lange Zeit als einer der unsichtbarsten Regisseure Spaniens galt. Die Filme von Joaquim Jordà, dem Theoretiker der barcelonesischen Schule, die im Spanien der 60er-Jahre mit den Sehgewohnheiten der spätfranquistischen Gesellschaft brechen wollte, waren nur einem kleinen Kreis Eingeweihter vertraut. Inzwischen hat der alte graue Mann des politisch ambitionierten Kinos drei Filme im Rahmen des Masterstudienganges produziert – und dafür mehr mediale Aufmerksamkeit bekommen als für sein Werk davor.

Wenn Guerin und in seiner Nachfolge Álvarez im Leben die große poetische Erzählung suchen, dann ist Jordà einer, der diese mit dem Vorschlaghammer zertrümmert. Der Regisseur spielt mit der Suggestionskraft von Authentizität nur, um dann die verschiedenen Ebenen von Wirklichkeit und Repräsentation munter zu dekonstruieren. In „Monos como Becky“ (der umständliche deutsche Titel lautet „Doktor Lobotomie. Die missbrauchte Schimpansin“, 1998) filmt er Patienten einer Irrenanstalt bei den Proben zu einem Theaterstück über den Lobotomie-Erfinder Egas Moniz. Moniz selbst lässt er von einem Portugiesen spielen, der behauptet, selbst Opfer einer Lobotomie zu sein. Und neben Interviewsequenzen, in denen Verwandte vom Leben des Nobelpreisträgers Moniz’ erzählen, montiert Jordà Archivmaterial seiner eigenen Gehirnoperation ein. Solche Doppelbödigkeiten gehören ebenso zu seinem Kino wie eine bildästhetische Verweigerung: Da ragen in Brecht’scher Manier Tonangeln ins Geschehen, Produktionsassistenten wuseln herum. Da ruft jedes Bild: Dies ist nicht die Wirklichkeit, sondern bloß die Abbildung einer inszenierten Realität.

In seinem aufklärerischen Impetus ist Jordà altmodischen Tugenden treu. Er ist der Einzige, der sich der spanischen transición annimmt – jenseits des gerade so chicen, relativ oberflächlichen Diktaturbewältigungsdiskurses. Der Dokumentarfilm „20 años no es nada“ („20 Jahre sind nichts“, 2004) ist eigentlich eine Langzeitstudie, entstanden aus einer Auftragsarbeit von 1979. Damals baten die Arbeiter des Elektroherstellers Numax, Jordà solle sie mit der Kamera bei der Selbstverwaltung ihres Betriebs begleiten. Ein Vierteljahrhundert später inszeniert der Regisseur ein Wiedersehen. Aus den zeitweiligen Fabrikbesitzern sind Kindergärtnerinnen, Taxifahrer oder Aussteiger geworden. Fast alle haben ihren Weg gefunden, jenseits der engen spanischen Mittelstandsmilieus. Jordà filmt seine Protagonisten in Bewegung, im Zug, im Auto, zu Fuß und erzählt dabei vom gesellschaftlichen Stillstand, vom Versagen der kompromisslerischen transición.

Wenn es etwas gibt, was die Filmemacher der „neuen barcelonesischen Schule“ eint, dann ist es ihr Insistieren darauf, es „anders zu machen“. Unisono propagieren sie Low Budget und Semiprofessionalität als Königsweg zu aufregendem Kino, wobei die daraus entstehenden Kräche mit den Produzenten eher als schmückend denn als beeinträchtigend wahrgenommen werden. Unter verständnisvollem Gekichere erzählt Mercedes Álvarez ihren Studenten vom Stress mit den Profis. Von deren anfänglichem Bestehen auf der die Interviewpartner unnötig einschüchternden Klappe. Von der absurden, aber angeordneten Präsenz eines Verkehrspolizisten in einem Dorf ohne Autoverkehr. Vom Aufschrei des Tonmanns, als sie statt der Angel drahtlose Mikros verwendete. „Ständig sagte jemand zu mir: ‚So macht man doch keine Filme. Was hast du eigentlich auf der Schule gelernt?‘“ Und schiebt die Antwort gleich hinterher: „Den Mut, zu traditionellen Produktionswegen und Strukturen Nein zu sagen.“

Der umstürzlerische Habitus kann leicht zur Masche werden. Der Gefahr sind sich die Filmemacher bewusst. „Das Schlimmste wäre, wenn alle unsere Filme in eine Schublade gesteckt würden“, sagt Jordi Balló und erwähnt wie nebenbei, dass er vor einiger Zeit über eine Auflösung des Studiengangs nachgedacht habe. Zurück hielten ihn die Warnungen seiner Kollegen. Die Nachwuchsfilmer könnten ohne den universitären Rahmen und die Fürsprache der Altmeister noch nicht arbeiten, der traditionelle spanische Filmbetrieb, in den der Studiengang kreative Unruhe gebracht habe, sei noch zu verknöchert. Balló hat nachgegeben und macht noch ein paar Jahre weiter.

Vom 19. 4.–7. 6. widmet das Museum für zeitgenössische Kunst in Barcelona (Macba) Joaquim Jordà eine Retrospektive sowie Podiumsdiskussionen