: Eis macht gefährliche Abkürzung frei
ARKTIS Erstmals passiert ein Frachtschiff die Nordwestpassage. Bei Unfall ist Hilfe weit entfernt
STOCKHOLM taz | Ausgerechnet als der Weltklimarat am Freitag seinen neuen Bericht in Stockholm präsentierte, erreichte 4.000 Kilometer weiter westlich die „Nordic Orion“ die Küstengewässer vor Grönland. Als erstes Frachtschiff hatte es die Nordwestpassage, den arktischen Seeweg zwischen dem Pazifik und dem Atlantik vor der Nordküste Alaskas und Kanadas, durchquert.
Elf Tage vorher war der Frachter beladen mit Kohle für ein finnisches Stahlwerk in Vancouver in See gestochen. Für die dänische Reederei rechnet sich die durch das schmelzende Eis ermöglichte Route: Sie ist 2.000 Kilometer kürzer als die durch den Panamakanal, und das Schiff konnte wegen der größeren Wassertiefe ein Fünftel mehr Ladung transportieren. Von einer „neuen Schifffahrtsära“ schwärmte die Nachrichtenagentur Reuters: Die Erderwärmung werde die Transportzeiten und -kosten der globalen Schiffahrt deutlich verringern.
„Eine solche Fahrt stellt ein enormes Risiko für die Umwelt und einen sehr negativen Präzedenzfall dar“, sagt dagegen Sigurd Enge, Arktisexperte der norwegischen Umweltorganisation Bellona. Entlang der Route gebe es bislang keinen Hafen, den ein Schiff der Größe der „Nordic Orion“ in einem Notfall anlaufen könne. Auf der Nordostpassage, dem Seeweg zwischen Asien und Europa vor der Küste Sibiriens, gebe es dagegen 16 Tiefwasserhäfen. Und auch diese Infrastruktur sei eigentlich ungenügend. Selbst Hilfe aus der Luft könne im Extremfall mehr als einen Tag dauern, da die Helikopter der kanadischen Küstenwache weit von dieser Passage entfernt stationiert seien.
Laut John Falkingham, einem Navigationsexperten der kanadischen Eis-Überwachung CIS, ist nur ein Zehntel der Nordwestpassage kartografisch so erfasst, wie es aktuellen Standards entspreche. Schiffe, die diese Abkürzung nähmen, gingen ein unverantwortliches Risiko ein.
In Konkurrenz zur Nordwestpassage hat sich die Nordostpassage vor der Küste Sibiriens mit noch günstigeren Eisverhältnissen mittlerweile deutlich als neuer Schiffahrtsweg zwischen Atlantik und Pazifik positioniert. Legten 2010 die gesamte Passage erst vier und 2012 46 Schiffe zurück, erhielten bislang in diesem Jahr rund 580 Schiffe die Genehmigung der russischen Behörden, diese Passage ganz oder teilweise zu befahren. Anfang September nahm beispielsweise erstmals ein Containerschiff diese nördliche Route zwischen dem chinesischen Dalian und Rotterdam. Und sparte damit ein Drittel Fahrtweg gegenüber der üblichen Route durch den Suezkanal ein.
Doch auch der aufgrund der kürzeren Strecken eingesparte Treibstoff ist Bellona zufolge kein Argument für die arktischen Seewege: „Die Rußemissionen des Schweröls eliminieren die Vorteile der Ersparnisse“, sagt Enge. „Der Ruß beschleunigt erwiesenermaßen das Abschmelzen des Eises. Die kürzeren Fahrwege dienen nur dem Profit und gehen auf Kosten der Umwelt.“
Ein Unfall am 4. September in der Nordostpassage bestätigte die Warnungen. Im sibirischen Kara-Meer schlug die mit Diesel beladene „Nordvik“ leck und blieb im Eis liegen. Eisbrecherhilfe kam erst eine Woche später, weil gleich vier Atomeisbrecher mit der Begleitung eines russischen Marinekonvois beschäftigt waren. REINHARD WOLFF
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