Regensburg räumt ab

ALTERNATIVKICK Die Bunten Ligen spielen zum 25. Mal einen Meister aus – mit Übergewicht im Mittelfeld

„Beim Spiel ohne Schiedsrichter ist die Beantwortung der Abseitsfrage Resultat deliberativer Aushandlungsprozesse“

RICHARD GEBHARDT, POLITOLOGE

LEMIERS taz | Der eine trug sein altes Che-Shirt, ein anderer brustbotschaftete vom „3. Karl-Marx-Cup in Trier – ich war dabei“, und woanders wehten Fahnen mit roten Sternen. Irgendwie waren (und vielleicht sind) alle mal links. Witz und Parodie fallen oft leichter als der erschreckend leichte Kurzpass zum freistehenden Mitspieler. Auf dem Platz wurde über Taktiken philosophiert: „Deine Laufwege? Du hast nur einen: Nach vorn und immer sofort wieder zurück.“ Andere stellten teamintern ein Übergewicht im Mittelfeld fest: „Das hat vier Namen, und macht locker anderthalb Zentner aus.“ Die schönsten Trikotagen 2010 trug Dynamo Windrad aus Kassel mit Namen wie „Wetts Kandal“ und „Sabo Tage“, „Pa Radox“ und „SoziAli Smus“.

Seit 25 Jahren findet zu Pfingsten die Deutsche Alternativ-Meisterschaft (DAM) statt: Fußball selbstorganisiert und jenseits des früheren Monopolisten DFB, in bunten und wilden Ligen. Dieses Jahr traf sich die Szene in Holland (in Lemiers nahe Aachen) – ein bisschen Internationalismus kommt gut, wenn das Alternativmilieu seinen nationalen Meister sucht. Es gab aber auch praktische Gründe: Nur außerhalb Aachens gibt es drei gute Rasenplätze nebeneinander. Und 32 Turnier-Elfen brauchen viel Platz für Spiel und Trank.

Fast hätte es das erste wirkliche und tatsächliche 6-Punkte-Spiel der Fußballgeschichte gegeben: Das Bielefelder Duell zwischen Laufen Solln Die Andern und Mein Freund Ist Aus Leder wollten die Teams zunächst für die eigene Wilde Liga gleich mitwerten. Das Argument: „Dann hat man 90 Minuten mehr frei.“ Im letzten Moment überlegten es sich die Lederfreunde aber anders. Und das war weise: Sie verloren 1:2.

DAM-Geschichte schrieb dafür der kleine Orlando aus Hamburg, für die Pampers All Stars der Roten Beete wieselfüßig unterwegs. Er wurde mit neun Jahren jüngster Torschütze aller Zeiten.

Fußballhistorische Dimensionen hatte das Versagen von Partisan Eifelstraße aus Aachen: Der Altmeister (1991) verlor sein Viertelfinale im Elfmeterschießen gegen Union Street FC aus Oxford, eines der zwei internationalen Teams neben Hedu Lodz. 11er-Schießen gegen Engländer verlieren! „Unfassbar“, fand das anschließend auch Teamchef Dieter Becker: „Wir schämen uns sehr.“ Später behaupteten die Oxforder dann zwar, sie hätten raffinierterweise nur ihre Waliser und Iren schießen lassen. Vielleicht war das auch nur eine Lüge zur Schmachlinderung – great sportsmanship.

Mittlerweile wird der Alternativkick auch wissenschaftlich erforscht. Als Ethnograf hat Richard Gebhardt, Politologe an der TH Aachen, jetzt die „undogmatischen Leibesübungen“ als Teil der neuen sozialen Bewegungen beobachtet. In einem langen Aufsatz über den „subversiven Buntligafußball“ hat er sogar Habermas eingewechselt („Assoziationswesen, das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten institutionalisiert“) und erklärt fußballbunte Alltäglichkeiten mit wissenschaftlichen Weihen: „Beim Spiel ohne Schiedsrichter ist die Beantwortung der Abseitsfrage Resultat deliberativer Aushandlungsprozesse.“ Kaum jemand wusste das bisher, wenn er leidenschaftlich streitet, um Abseits oder ein versehentliches Handspiel.

Bei der Auslosung assistiert hatte Simon Rolfes. Der Leverkusener Profi lebt nahe Aachen und wollte auch zum Endspiel wiederkommen. Doch seine Gattin ist hochschwanger. Das hieß: Kreißsaal statt Mittelkreis. Rolfes verpasste das Finale zwischen den Piranhas aus Regensburg und der RAF (Regensburgs Alte Filmbühne) – die Piranhas gewannen 2:0.

„Fußball“, sagte ein weiser Veteran von Aachens Team Senile kickt, „ist ein einfaches Spiel, aber kein leichtes Spiel.“ Und auch nicht zu erklären: Denn nicht nur die Plätze 1 und 2 gingen in die Papststadt, sondern – besonders umjubelt – auch der Platz 31 an die jungen Frauen von Kosmos Ost: Erstmals wurden sie bei ihrer 5. DAM-Teilnahme nur Vorletzte. Glückstrunken stimmten sie bayerisch donnernd die Internationale an: „… die Interstellare erkämpft das Mädchenrecht.“ Was immer das bedeuten sollte. Mysteriöses Regensburg.

BERND MÜLLENDER