Fast ein Holocaust in Palästina

Die Nazis planten, die „jüdische Heimstätte“ zu besetzen und die dort lebenden Juden zu ermorden. Das belegen Dokumente, die deutsche Historiker erst jüngst entdeckten

VON KLAUS HILLENBRAND

Dies ist die Geschichte einer Geschichte, die niemals geschehen ist. Die Historiker Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers haben sie entdeckt und verfasst. Recht unscheinbar kommt ihr Aufsatz daher, in einem lesenswerten Sammelband zu Ehren des in Sydney lehrenden Konrad Kwiet.

Doch auf 23 Seiten schließen sie eine enorme Lücke in der Forschung über den Holocaust. Denn Mallmann und Cüppers haben Dokumente ausgegraben, aus denen hervorgeht, dass und wie die Nazis die Vernichtung der Juden auch in ihrer „Heimstätte“, dem unter britischem Mandat stehenden Palästina, geplant haben.

Palästina war seit 1933 zu einem der wichtigsten Fluchtpunkte für die verfolgten Juden Deutschlands geworden. Trotz der rigiden britischen Einwanderungsbestimmungen – als Reaktion auf den arabischen Aufstand –, retteten sich Zehntausende in das kleine Land. Dass auch diese Geretteten ebenso wie alle 500.000 in Palästina lebenden Juden vor den Nazis nicht sicher waren, ist lange bekannt. In Tel Aviv, Haifa und Jerusalem ging im Sommer 1942 die Angst vor einem Einmarsch der Deutschen um. Adolf Hitler hatte schon am 25. Juli 1941 erklärt: „Es ist gut, wenn uns der Schrecken vorangeht, dass wir das Judentum ausrotten. Der Versuch, einen Judenstaat zu gründen, wird ein Fehlschlag sein.“

Es ist nicht bei bloßen verbalen Ankündigungen geblieben – das beweisen Mallmann und Cüppers in ihrem Aufsatz „Beseitigung der jüdisch-nationalen Heimstätte in Palästina“. Im Sommer 1942 stand die militärische Lage für die Deutschen in Afrika günstig. Rommels Truppen hatten die britische Festung Tobruk eingenommen und waren an anderer Stelle bereits in Ägypten eingedrungen. Als vermeintlich letzte größere Stellung stand nur noch El Alamein, rund 100 Kilometer westlich von Alexandria, einem Durchbruch zum Nil, dem Suez-Kanal und weiter nach Palästina im Wege.

Da flog am 20. Juli 1942 SS-Obersturmbannführer Walther Rauff nach Tobruk. Er war der Kopf eines bis dato unbekannten „Einsatzkommandos Afrika“, gebildet im Auftrag des Reichssicherheitshauptamts. Das waren keine gewöhnlichen Soldaten, sondern, wie Mallman/Cüppers schreiben, „eine Truppe radikaler Weltanschauungskrieger“ – sieben SS-Führer und 17 Unterführer und Mannschaften. Ihr Ziel: Die Vernichtung der Juden in Palästina.

Zwar können die Autoren keinen NS-Generalplan zum Massenmord in Palästina vorlegen. Die Aufgabenstellung für Rauff und Konsorten ist nach Lage der Dokumente aus dem Oberkommando der Wehrmacht dennoch eindeutig: „Das SS-Einsatzkommando erhält seine fachlichen Weisungen vom Chef der Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst Reichsführer SS und führt seine Aufgaben in eigener Verantwortlichkeit durch. Es ist berechtigt, im Rahmen seines Auftrages in eigener Verantwortung gegenüber der Zivilbevölkerung Exekutivmaßnahmen zu treffen.“ Ganz ähnlich, zum Teil wortgleich, ist der Auftrag für die Einsatzgruppen in der Sowjetunion umschrieben worden, die dort seit 1941 schon fast eine Million Juden systematisch ermordet hatten.

Die geringe Stärke des „Einsatzkommandos Afrika“ erklären Mallmann und Cüppers mit der auch in Osteuropa praktizierten Kollaboration der Nazis mit einheimischen Antisemiten. Der eigentliche Massenmord sollte demnach offenbar unter Anleitung der Deutschen von arabischen Untergebenen durchgeführt werden. Der Aufsatz dokumentiert die enge Kooperation der Nazis mit dem Mufti von Jerusalem, Hadsch Amin al-Husseini. Er ließ sich von Adolf Eichmann offenbar regelmäßig persönlich den Stand der Juden-Ermordungen in Europa erklären. Unter anderem daraus ziehen die Autoren den Schluss, dass die arabische Nationalbewegung in Palästina 1942 als Vollstrecker bereit stand.

Während Rauff, ein enger Mitarbeiter Reinhard Heydrichs, im Juli 1942 in Tobruk die Instruktionen für den Einsatz erhielt, wartete das übrige Kommando in Athen auf die Überstellung nach Afrika. Dazu ist es freilich nie gekommen: Anfang September endete die Schlacht bei El Alamein mit einem Desaster für die Deutschen. Im Mai 1943 mussten die Reste von Rommels Afrika- Korps die Waffen strecken. Zwei Jahre und Millionen Tote danach kapitulierte die Deutsche Wehrmacht.

Großbritannien hatte sich einem Abzug aus Palästina lange widersetzt, hatte tausenden Holocaust-Überlebenden die Einreise verweigert. Doch es waren auch britische Soldaten, die den Jischuw, die jüdische Gemeinschaft, im Jahre 1942 vor dem „Einsatzkommando Afrika“ und dem Massenmord gerettet haben. Nur sechs Jahre später, am 14. Mai 1948, proklamierte David Ben Gurion in Tel Aviv den Staat Israel.

Jürgen Matthäus/Klaus-Michael Mallmann (Hg.): „Deutsche, Juden, Völkermord. Der Holocaust als Geschichte und Gegenwart“. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, 352 Seiten, 59,90 Euro