„Hits zu schreiben ist eine Kunst“

Für sein Album „Timeless“ hat der Pianist Sérgio Mendes brasilianische Songklassiker in ein aktuelles Popgewand gekleidet. Ein Gespräch über die Globalisierung, eine musikalische Revolution namens Bossa Nova sowie den sichersten Weg zum Glück

INTERVIEW MAX DAX

taz: Herr Mendes, Antônio Carlos Jobim hat Sie entdeckt, dank Herb Alpert wurden Sie in den USA zum Star. Sie scheinen in Ihrem Leben immer Glück gehabt zu haben: Woran lag’s?

Sérgio Mendez: Beziehungen. Man muss Beziehungen haben. Es braucht stets jemanden, der an einen glaubt, der einen mit anderen Menschen verkuppelt. Sie sind doch auch nicht zufällig hier: Jemand hat diesen Termin für Sie arrangiert. Machen wir also etwas daraus. So sehe ich mein ganzes Leben: als ein Reich der Möglichkeiten.

Sie glauben nicht an Glück?

Im Fußball sagt man: Man muss das Glück provozieren, sonst küsst es einen nicht. Natürlich glaube ich an das Glück. Aber ich provoziere es auch.

Herb Alpert auf alle Fälle hat mich gesucht und gefunden. Und heute sind eben Will.i.am von den Black Eyed Peas und ich zufällig aufeinander gestoßen. Meine Plattenfirma ließ mir alle Freiheiten der Welt. Herausgekommen ist ein Album, für das sich keiner der Beteiligten – ob das nun Erykah Badu, Stevie Wonder, Jill Scott oder Justin Timberlake ist – schämen muss. Aber war es Glück?

Sie und Will.i.am leben beide in Los Angeles. Hat das für Ihre Begegnung eine Rolle gespielt?

Klar doch, wir wären uns sonst vermutlich nie begegnet. Aber als ich noch in Brasilien gelebt habe, da traf ich auf Jobim. Mit ihm gemeinsam bin ich dann nach New York und Los Angeles gezogen, er kannte die Vereinigten Staaten ja bereits. Für mich waren die USA das Paradies. Auch weil ich der Militärdiktatur in Brasilien auf diese Weise entkommen konnte.

Verfolgen Sie das Geschehen in Ihrer alten Heimat?

Na klar! In Los Angeles bekomme ich brasilianische Zeitungen, Magazine und TV Globo. Vor allem Fernsehen ist wichtig: Wie sonst könnte ich die Spiele des brasilianischen Nationalteams sehen?

Begrüßen Sie, dass die Welt so viel kleiner geworden ist?

Gute Frage. Ich weiß es nicht. Ich kann heute in L. A. sitzen und immer das Gefühl haben, ich wüsste, was in Rio, Recife und São Paolo abgeht. Aber zugleich macht es mich träge: Ich ertappe mich dann manchmal bei dem Gedanken, dass ich mir gar nicht mehr die Mühe machen möchte, nach Brasilien zu fliegen. Andererseits könnte ich in Brasilien nur lokal arbeiten. Eine weltweite Karriere von Rio de Janeiro aus zu managen, ist ein Ding der Unmöglichkeit, wenn Sie mich fragen.

Ich lebe gern in L. A. – dort habe ich mein Studio, und manchmal habe ich den Eindruck, dass in Los Angeles mehr brasilianische Musiker leben als in Rio. Mein Sohn Gustavo ist 19 Jahre alt, er hat zwei Pässe und hat beide Welten kennen gelernt. Für eine entschieden hat er sich bis heute nicht. Auch ich besitze noch meinen brasilianischen Pass. Ich bin nie ein Bürger der Vereinigten Staaten geworden.

Woher kommt Ihre Faszination für Nordamerika?

Nicht nur Nordamerika. Die Welt. Ich liebe die Welt, und ich liebe Brasilien. Aber ich bin auch ein Pragmatiker. Als ich in den Sechzigern nach New York ging, spielte ich in der Carnegie Hall – einer der bedeutendsten Konzerthallen der Welt. Einem Ort, an dem Weichen für Weltkarrieren gestellt werden. Einen solchen Ort gibt es in Rio nicht. Außerdem mag ich es gleichmäßig warm. In Los Angeles ist es nie zu heiß und nie zu kalt. Ein perfekter Ort für jemanden wie mich.

Sie durften im Weißen Haus auftreten. Vor dem Präsidenten.

Zweimal durfte ich im Weißen Haus auftreten. Vor Richard Nixon und Ronald Reagan. Bei Nixon weiß ich noch den Anlass: Prinz Juan Carlos von Spanien war zu Gast. Ich sollte die Dinnergesellschaft mit meiner Musik unterhalten. Und ich verrate Ihnen etwas: Es ist wirklich nett im Weißen Haus. Man schüttelt dem Präsidenten die Hand, lächelt und – puff! – wird ein Foto gemacht. Das wird einem dann gerahmt überreicht.

Mehr ist nicht passiert?

Doch, meine Frau und ich haben vor meinem Auftritt mit dem Präsidenten zu Abend gegessen – mit der Dinnergesellschaft. Ich glaube, ich war noch nie so nervös vor einem Auftritt.

Nervös? Sie?

Kein Musiker geht triumphierend auf die Bühne. Zumindest nicht die Musiker meiner Generation. Dieses Moment des Unvorhersehbaren war schon immer das Salz in der Suppe.

Vermissen Sie die alte Zeit? Viele Männer Ihrer Generation wie Joe Zawinul, Herbie Hancock oder Charlie Haden scheinen Ihr nachzutrauern.

Witzig, dass Sie das sagen. Alle drei leben heute in L. A. Mit Joe Zawinul bin ich heute noch gut befreundet, er lebt in Malibu. Wussten Sie, dass Joe und ich damals zur gleichen Zeit in New York aufschlugen? Ich kam aus Rio, und Joe kam aus Wien. Und binnen einer Woche lernten wir uns kennen, weil wir beide den größten aller Jazzmusiker kennen lernen wollten: Cannonball Adderley! Joe wurde dann ja sein Pianospieler – und ich durfte mit Cannonball eine Schallplatte aufnehmen. Als ich kürzlich eine Woche mit Joe in Japan verbracht habe, weil wir beide auf dem gleichen Jazzfestival aufgetreten sind, haben wir lange miteinander getrunken und geredet: über Brasilien, Fußball, Jazz.

Vermissen Sie nichts?

Ich vermisse diese elektrische Stimmung, die ganz Brasilien durchzuckte, als der Bossa Nova aufkam und den Samba in Frage stellte. Es war genau die Zeit, in der ich meine ersten Konzerte in kleinen, intimen Clubs gegeben habe. Ich hatte einfach das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein.

Was war damals anders?

Alles war spontaner, nichts war vom Geschäft diktiert. Rio de Janeiro in den Sechzigern war eine sehr sichere Stadt. Man konnte zu Fuß nachts durch die gesamte Stadt spazieren – es wäre einem nirgendwo etwas passiert.

Der Bossa Nova galt damals als eine Revolution, die den traditionellen Samba in seinen Grundfesten erschütterte.

Bossa Nova ist für die brasilianische Musik, was Bebop für den Jazz gewesen ist: die Tür zur Moderne. Und so, wie die Bossa Nova dank Jobim meine liebste Musikform ist, ist Bebop meine bevorzugte Phase im Jazz. Ich muss nur die Namen nennen: Charlie Parker, Thelonious Monk, Dizzy Gillespie! All diese Männer waren singuläre Erscheinungen. So gesehen trauere ich den Sechzigern nach – weil all diese Herren heute tot sind.

Sie selbst haben nie wirklich komponiert, sondern meist fremde Songs interpretiert und neu arrangiert.

Das ist richtig. Ich habe immer Songs gebraucht, die andere mir geschrieben haben. Große Songs zu schreiben, ist ein Handwerk, das immer mehr in Vergessenheit gerät. Ich sehe heute weit und breit keinen Irving Berlin, keinen Jobim, keinen George Gershwin mehr. Diese Männer haben nicht zwei oder drei Hits geschrieben, sondern hunderte, wenn nicht gar tausende Songs. Raffinierte Songs; Songs mit unerwarteten Tonartwechseln; verfugte Songs; geniale Songs.

Brasilianische Musik gilt als besonders weltoffen. Die Beatles haben einen immensen Einfluss auf die Tropicalismo-Bewegung gehabt.

Ich habe selbst nichts mit der Tropicalismo-Bewegung zu tun gehabt. Die fand statt, als ich längst schon in L. A. lebte. Aber Herb Alpert hat meine Frau und mich einmal zu Silvester nach Acapulco in Mexiko eingeladen. Er schenkte mir eine Schallplatte – „Magical Mystery Tour“ von den Beatles. Eine fantastische Platte mit unglaublichen Melodien. Den Song „Fool on the Hill“ habe ich daraufhin aufgenommen. Mein Bossa-Arrangement wurde ein Welthit.

Mochten die Beatles Ihre Version?

Ja, sehr sogar. Ich bin irgendwann Paul McCartney vorgestellt worden, das war 1993 während der Grammy-Verleihung, wo ich einen Grammy für das beste World-Music-Album verliehen bekam. Ich war mit meiner Band beim Soundcheck, als Paul vorbeischaute. Netter Mann.

Warum sind Sie in den Achtzigern eigentlich von der Bildfläche verschwunden?

Keine Ahnung. Die Leute vergessen ja auch immer, dass ich in den Achtzigern meinen größten Hit überhaupt hatte: „Never Gonna Let You Go“. Ein gigantischer Hit, weltweit, mit Multimillionen Verkäufen. Aber keiner scheint’s gemerkt zu haben. Vielleicht, weil es keine Bossa-Nova-Nummer war? Oder weil ich zum ersten Mal einen Sänger statt einer Sängerin benutzt hatte? Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe wie ein Schwein gearbeitet in den Achtzigern, bin getourt, gereist. Ich werde nie etwas anderes tun.

Auf Ihrem neuen Album „Timeless“ haben Sie klassische Bossa-Kompositionen wie Jorge Bens „Mas Que Nada“ völlig neu interpretiert.

Das Album heißt ja nicht umsonst „Timeless“: Alle Songs, die ich da interpretiert habe, sind Klassiker. Die müssen niemandem mehr etwas beweisen. Meine Auseinandersetzung mit diesen Songs wurde in dem Moment spannend, als Will.i.am die Bildfläche betrat. Warum? Weil ich keinen Schimmer hatte, wohin die Reise gehen würde.

Scheuen Sie die Langeweile?

Habe ich auch schon ausprobiert. Ist wirklich langweilig. Und das Schlimmste ist: Sie verlieren die Motivation. Und wenn Sie die Motivation verlieren, sind Sie verloren. Ich kenne das Geschäft. Wenn man da nicht motiviert ist, kann man den Beruf hassen lernen. Als Will.i.am mich besuchte, verspürte ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder dieses Feuer.

Fiel es Ihnen schwer, die Streicher, die Lounge-Moods und den Bombast von früher hinter sich zu lassen? „Timeless“ klingt fast spartanisch.

Darum ging es. Will und ich waren uns sehr bald einig, dass unser Album einfach, transparent und minimalistisch sein sollte.

Warum dann aber so viele Gastmusiker? Widerspricht das nicht diesem Gedanken?

Ach, Stevie Wonder war zum Beispiel zufällig gerade im gleichen Studiokomplex zugange wie wir. Er hörte, dass ich ein neues Album aufnehmen würde, kam vorbei, hörte sich unsere Baden-Powell-Interpretation von „Berimbau“ an und versprach: „Morgen bringe ich meine Mundharmonika mit.“ Hätten Sie etwa ein solches Angebot abgelehnt?