Der Föhn für das gefrorene Meer in uns

MI5 Einleuchtendes Exemplar eines literarisch anspruchsvollen Unterhaltungsromans: „Honig“ von Ian McEwan

Verwicklungen, perverse Wollüste, Komplikationen und Katastrophen

VON STEPHAN WACKWITZ

Der literarisch anspruchsvolle Unterhaltungsroman für die gebildeten Stände ist ein eigenes Genre mit eigenen Gesetzen. Der satirische Schriftsteller Stefan Gärtner hat diese Gesetze anlässlich einer Lewitscharoff-Würdigung in der Titanic-„Humorkritik“ neulich – genervt, aber nicht ohne Klarsicht – charakterisiert als „maßkonfektionierte Konsensprosa für Feuilleton und Literaturpreisjurys, bisschen Avantgarde, bisschen Bildung, bisschen Witz, und zwar genau so tantig abgezirkelt, dass Zeit-Leser beim Schmunzeln den Tee nicht verschütten. Ein Föhn für das gefrorene Meer in uns, und der läuft auf der kleinsten Stufe.“ Das ist witzig. Vielleicht ist es sogar treffend (ich kann es nicht beurteilen, denn ich habe noch nie etwas von Sibylle Lewitscharoff gelesen).

Aber man fragt sich, warum Gärtner das mit aller Gewalt so formuliert, als wäre es etwas Schlechtes. Ich zum Beispiel mag gut gemachte literarische Konfektion. Weder der allgemeine Konsens der Leserschaft noch der der Literaturpreisjurys ist unbedingt dumm und böse. Und Kafkas viel zitierter Satz vom Buch als einer „Axt für das gefrorene Meer in uns“ ist schon immer der steile Unfug gewesen, zu dem unser großer Sakrosankter, halten zu Gnaden, gelegentlich eine unglückliche Neigung hatte.

In den fünfziger Jahren ist gute literarische Konfektion von Philip Larkin und Kingsley Amis im englischen Sprachraum – praktisch freihändig – gegen das damals noch unumschränkt herrschende Joyce-Pound-Kartell durchgesetzt worden. Und das ist gut so. Denn dieser Befreiungsschlag machte das literarische Feld frei für moderne Klassiker des intellektuell anspruchsvollen Unterhaltungsromans. Zum Beispiel für die Great Male Narcissists Updike, Mailer und Roth. Oder für Richard Ford, Martin Amis, Paul Auster, David Lodge und Ian McEwan. Ohne deren Arbeit die Welt, wie jedermann zugeben wird, ein schlechterer Ort wäre.

„Honig“, McEwans neues Buch, ist ein sehr einleuchtendes Exemplar des Genres. Es beschäftigt sich mit einem wichtigen Thema – der klandestinen antikommunistischen Kulturpolitik der angloamerikanischen Geheimdienste –, es ist brillant geschrieben, hat interessante Charaktere, Sex, Tragik und ist spannend. Und man verschüttet beim Schmunzeln den Tee nicht, was nebenbei bemerkt überhaupt kein rezeptionsliterarisches Qualitätsmerkmal ist.

Ein schönes Mädchen aus gutem Haus wird von einem älteren Mann verführt und unter einem inszenierten Vorwand verlassen, damit es nicht mitbekommt, wie er an Krebs stirbt. Er hat sie mit dem britischen Inlandsgeheimdienst MI5 zusammengebracht, und ihre Tätigkeit dort ist für die Heldin eine Art Dienst an dieser tragisch verunglückten Liebesaffäre. Der MI5 ist ein denkbar mieses Arbeitsumfeld, männerbündisch, kaltherzig, paranoid, und als Frau wird sie noch schlechter behandelt als ihre Kollegen. Analog zur Kulturpolitik der CIA, die in den fünfziger Jahren über das New Yorker MoMA den Abstrakten Expressionismus als Weltkunst etablierte oder renommierte literarisch-politische Zeitschriften wie den Encounter oder den Monat klandestin betrieb, beschließt der MI5, antikommunistisch viel versprechende Schriftsteller über eine Tarnorganisation für größere schriftstellerische Arbeiten freizustellen: das Programm „Sweet Tooth“, von Werner Schmitz geschickt mit „Honig“ übersetzt.

Das schöne Mädchen aus gutem Haus wird auf einen jungen Schriftsteller angesetzt und verliebt sich in ihn. Die postmodern durchtriebene Verarbeitung der aus dieser Versuchsanordnung folgenden Verwicklungen, Leiden, perversen Wollüste, logischen Komplikationen und menschlichen Katastrophen bilden die nacheinander explodierenden Sprengladungen des literarischen Feuerwerks „Honig“.

McEwans neues Buch ist – wie viele Romane von Philipp Roth – ein historischer Roman über eine noch nicht lange zurückliegende Vergangenheit. Diese Art von Büchern erstaunen durch die Erkenntnis, wie vollständig sich Gesellschaften in kurzer Zeit ändern können. Die politischen Probleme und Diskussionen, mit denen wir alle uns in den Siebzigern herumplagten, sehen schon im Abstand von dreißig Jahren so exotisch und fremd aus wie theologische Streitigkeiten des dritten nachchristlichen Jahrhunderts. Aber eine von vielen erinnerungswerten Formulierungen in „Honig“ macht uns klar, dass „die Macht und das Beharrungsvermögen des Marxismus, wie die jedes anderen theoretischen Schemas“, beruht hat „auf seiner Fähigkeit, intelligente Frauen und Männer zu verführen“.

Literarische Brillanz zeichnet sich dadurch aus, dass man weniger und weniger Interessantes über sie sagen muss und kann als über literarisches Misslingen. Vieles an „Honig“ kann man bewundern. Vorrangig den raffiniert einfachen, noch in der kompliziertesten Wendung eingängigen und nachvollziehbaren Stil. Brillant gelungen ist der exotische Effekt, den McEwan durch die glaubwürdige Darstellung der Tatsache erzeugt, dass Frauen in den siebziger Jahren offenbar (was man im Westen schon fast vergessen hat) Männer grundsätzlich mochten und bewunderten, statt sich apriorisch von ihnen bedroht und unterdrückt zu fühlen. Sehr bewundernswert ist schließlich eine Art Novellenkranz in der Romanrahmenhandlung, der dadurch entsteht, dass die Erzählerin die Kurzgeschichten des geliebten und bespitzelten Schriftstellers, die sie liest und an deren Entstehung sie beteiligt ist, teils nacherzählt, teils zitiert. Man liest viele Bücher, während man „Honig“ liest.

All das ist bestimmt kein Lektüreerlebnis, das ein Leben verändert, keine Axt für das gefrorene Meer in uns. Es ist brillant, es wird viele Literaturpreisjurys überzeugen, es wird allgemein den Konsens darüber erzeugen, dass es ein sehr gutes Buch ist. Vermutlich nicht eines, das die Literaturgeschichte des 21. Jahrhunderts definieren wird. Aber eines, das die Leserin, solange es dauert, auf eine milde Weise glücklich macht, egal ob sie beim Lesen Tee trinkt oder nicht. Ein anspruchsvoller Unterhaltungsroman für die gebildeten Stände.

Man kann literarisch anspruchsvollen Romanen für die gebildeten Stände vorwerfen, dass sie irrelevante Themen an den Haaren herbeiziehen, ein prätentiöses avantgardistisches Schaulaufen inszenieren, flauen Humor an den Tag legen oder stilistisch hingeschludert sind. Aber nicht, dass sie maßgeschneiderte Konfektion sind, denn die verwirklicht sich, wenn man als Leser Glück hat, in so glänzenden und legitimen Exemplaren wie dem neuen Buch von Ian McEwan.

Ian McEwan: „Honig“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich 2013, 448 Seiten, 22,90 Euro