Der Verweigerer

Das Nicht-Mitmachen-Wollen als Anfang des Schreibens: Der Schriftsteller Andreas Maier eröffnete am Dienstag seine Frankfurter Poetikvorlesung

Gibt es diesen einen Punkt, die Urszene, an der sich alles orientiert, von der sich alles Weitere ableiten lässt, eine Biografie, eine geistige Disposition, ein künstlerisches Werk? Ja, sagt der Schriftsteller Andreas Maier, und dieser Punkt in seinem Leben sei eine Katastrophe gewesen, von der er sich bis heute nicht erholt habe. Aber dazu gleich mehr.

Die Frankfurter Poetikvorlesungen gehören zu den meist beachteten Veranstaltungen im deutschen Literaturbetrieb. Was 1959 mit Ingeborg Bachmann begann, hat sich durch die Jahrzehnte und gesellschaftlichen Umbrüche irgendwie retten können, sodass es heute genau so ist, wie es wahrscheinlich auch vor 20 oder 30 Jahren war – ein Autor betritt den riesigen Hörsaal der Goethe-Universität, tritt nach vorne ans Pult, beginnt zu reden, über sich, sein Schreiben, sein Leben, und drei- oder vierhundert Menschen kommen und hören ihm zu. Sonst nichts.

Andreas Maier also, 1967 in der Wetterau bei Frankfurt geboren, Verfasser der Romane „Wäldchestag“, „Klausen“ und „Kirillow“, hat seiner Dozentur konsequenterweise den Titel „Ich“ gegeben und stellte gleich zu Beginn fest: „Dies ist keine Autobiografie, aber um Ihnen überhaupt einen Eindruck zu verschaffen, in welchem seelischen Klima meine, wie ich erfahren habe, teils sehr missverstandenen Bücher entstanden sind, muss ich aus meinem Leben erzählen.“

Und vor allem von den Verweigerungen dieses Lebens; „Die Verweigerung“, so hieß der erste von fünf Vorträgen. Die Verweigerung, das ist bei Andreas Maier vor allem die des Sicheinigseins mit den Anderen, des Dazugehörens zu denen, die das Leben aushalten, ihr Leben, so wie es ist, und zwar um den Preis von Wahrheit; die Weigerung, einer Gruppe anzugehören, nicht aus Snobismus oder Eitelkeit, sondern aus einer existenziellen Notwendigkeit heraus, die einen sehr frühen Ursprung hat, eben die Katastrophe, die Ur-Verweigerungsszene.

Im Alter von drei Jahren wird der Autor zum ersten Mal in den Kindergarten gefahren, „im Gang des Kindergartens steht eine überaus gut gelaunte Person und grinst mich freundlich begeistert an, wieder ist da dieses Unechte.“ Die Erinnerungen an die folgenden Stunden: „Die Menschen dort waren ungeheuer bunt gekleidet. Sie hatten komische Zähne. Sie waren sehr aggressiv. (…) Sie waren schnell, und sie handelten nach Gesetzen, die mir völlig verschlossen blieben. (…) Vor meinen Augen verwandelten sich diese Menschen in Handlungsautomaten.“ Am Abend, als die Mutter den Bub abholt, spricht, so wird es in der Familie noch heute erzählt, der Dreijährige einen vollständigen Konditionalsatz: „Wenn ihr mich hier morgen wieder herbringt, renne ich unter das nächste Auto.“ Er muss nicht; er darf zu Hause bleiben, im Keller, wo er Flugzeugmodelle aus vorgefertigten Bauteilen zusammenbaut, bis er bemerkt, dass das nicht reicht. Auch das eine Vorstrukturierung.

Andreas Maiers Eröffnung war mutig, weil offen autobiografisch und frei von jeder Selbststilisierung, angefangen beim ersten (und letzten) Besuch bei einem Psychologen bis hin zur Zeit als Referendar an einer Frankfurter Schule. Und aus ihr heraus kristallisierte sich untergründig und quasi nebenbei ein literarisches Erzählen. Zu Recht erhielt der Autor lang anhaltenden Beifall. „Form“, „Die Verwirrung“ und „Der Betrieb“ lauten die Titel der folgenden Vorlesungen, wobei mit der letzten der Literaturbetrieb gemeint ist. Wahrheit, so viel dürfte klar sein, findet man gerade dort nicht.

CHRISTOPH SCHRÖDER