: „In den ersten Minuten sind die Augen eher bei mir“
DIE GEBÄRDENDOLMETSCHERIN Wenn Laura Schwengber arbeitet, steht sie oft bei Konzerten neben dem Sänger: Sie übersetzt Songs von Selig bis Revolverheld live für Gehörlose. Bei richtig lauter Musik tüftelt die 23-Jährige vorher aus, welche Gebärde zu welcher Metapher passt – und dass sich das Ganze reimt
■ Die Frau: Die 23-Jährige ist in Lübben im Spreewald geboren und auch dort aufgewachsen. Sie begann mit Blockflöte und managte als Teenie die Rockband eines Freundes.
■ Der Beruf: Die staatlich geprüfte Gebärdensprachdolmetscherin studierte zuerst Deaf Studies und arbeitete nebenher an einer Berliner Gebärdensprachschule. Seit zwei Jahren packt sie noch Gebärdensprachpädagogik und Englisch auf Lehramt an der HU obendrauf, um an einer Gehörlosenschule zu unterrichten. Seit 2011 übersetzt sie Songs, zuerst in Form von Musikvideos für Radio N-Joy, seit einem Jahr auch live bei Konzerten.
■ Die nächsten Auftritte: mit Keimzeit am 19. 12. im Kesselhaus (Berlin), am 20. 12. im F-Haus (Jena), am 21. 12. im Tivoli (Freiberg). „Peter und der Wolf“ am 31. 12. im Potsdamer Nikolaisaal.
INTERVIEW ANNE HAEMING FOTOS AMÉLIE LOSIER
taz: Frau Schwengber, Sie stehen bei Ihrer Arbeit neben der Band auf der Bühne. Für Uneingeweihte sieht es aus, als seien Sie eine Tänzerin. Irritiert das nicht das Publikum?
Laura Schwengber: Das kommt vor. Oft erklären die Bands erst nach dem zweiten Lied, wer ich bin: Das ist übrigens Laura, sie ist Gebärdensprachdolmetscherin und wir begrüßen auch alle, die nur sie verstehen. Aber ja: In den ersten Minuten sind die Augen sicher eher bei mir.
Sonst ist ja der Sänger im Fokus – keine Angst, ihm die Show zu stehlen?
Jan Plewka von „Selig“ hat mich einfach immer wieder zu sich herangeholt. Und hat sich schon während der Proben einige Gebärden von mir abgeschaut, die er beim Singen mitgemacht hat. Das war supercool.
Herbert Grönemeyer singt über ein taubes Mädchen: „Sie hört Musik nur, wenn sie laut ist.“ Ist es normal, dass Gehörlose auf Konzerte gehen?
Nicht wirklich. Bei einem Auftritt kam in der Pause ein älterer Mann auf mich zu und sagte in Gebärdensprache: „ICH 60 JAHR ALT, JETZT ICH ERSTE MAL KONZERT GEWESEN. DANKE.“ Ich habe glatt ein paar Tränen verdrückt. Aber viele sind auch nicht volltaub, haben Hörgeräte, gehen in die Disco. Die Bässe spüren sie ja.
Sie dolmetschen Songs und zeigen Gehörlosen so, dass es mehr gibt als den Wumms. Sie haben gerade für die Fotografin das Berlinlied „Schwarz zu Blau“ von Peter Fox gebärdet. Könnten Sie die Zeile kurz erklären?
Na, ich machte das Zeichen für Schwarz, ließ dann den Sonnenaufgang in „Blau“ übergehen, alles eher oben gebärdet, wo der Himmel ist. Weil es die Vokabel „zu“ in Gebärdensprache nicht gibt, deute ich die Veränderung einfach anders an, eben mit dem Sonnenaufgang, passt thematisch ja. Ich würde aber nicht so weit gehen, die Farben wegzulassen und einfach nur zu zeigen: So, Sonnenaufgang. Fertig.
Viele Songtexte sind wie Poesie – wie übersetzt man das?
Indem ich bestimmte Gebärden wähle und sie auf besondere Weise ausführe. Es ist ja ein Unterschied, ob ich einen Käfer sachlich einen Baum hochklettern lasse (lässt eine Hand am anderen Unterarm gerade hochkriechen) oder ob ich das lyrischer mache, indem ich den Käfer in Schlangenlinien und mit einem Rhythmus krabbeln lasse.
Gibt es auch poetische Zeichen?
Nehmen Sie „sterben“. Ganz unlyrisch sieht das so aus: (hält die Hand vor sich, Handfläche nach oben, und dreht sie um). Ich kann stattdessen aber auch „vergehen“ zeigen: (zieht die eine Hand durch die andere durch).
Was machen Sie bei Metaphern?
Eine Liedzeile von Heinz-Rudolf Kunze lautet: „Die Engel spielen Schach in Raum und Zeit.“ Da habe ich ganz lange überlegt: Setze ich die Engel in eine Gruppe oder einzeln? Nee, das weiß ich ja nicht. Und damit die Bilder nicht ineinanderlaufen, weise ich ihnen einzelne Orte zu. Raum und Zeit begleitet uns immer, das habe ich weiter oben auf einer anderen Ebene gebärdet. Und ich ließ die Zeichen ineinander übergehen, weil es dafür Gebärden mit ähnlicher Fingerhaltung gibt. Das ist ähnlich wie ein Reim.
Viele Ihrer US-Kollegen betonen, dass sie die Lieder interpretieren. Sie lehnen das ab.
Ich finde, das steht mir nicht zu. Wenn mir beim Vorbereiten ein Bild in den Kopf kommt, kann ich das doch nicht allen anderen vorgeben.
Erkennt man auch Musikstile?
Na ja, die Bewegungen zu Songs von Revolverheld sind natürlich schneller, expressiver, zackiger als etwa bei einem Liebeslied.
Welches Genre ginge gar nicht?
Heavy-Metal-Songs, bei denen ich nicht mal den Text verstehe. Und ich habe zwar mal eine Konfirmation gedolmetscht, aber Kirchenlieder sind schwierig für mich: Ich müsste jede einzelne Vokabel nachschlagen.
Sie machen Musikvideos fürs NDR-Radio. Man sieht da: Sie sind eine echte Rampensau.
Sagen wir so: Es macht mir nichts aus, auf der Bühne zu stehen. Ich freue mich, Leuten Zugang zu etwas zu verschaffen, das ihnen sonst verborgen bliebe. Aber wenn ich mir meine Videos anschaue, finde ich, das ist nichts Besonderes. Und dann schaue ich auf die Klickzahlen und denke: Ihr habt doch alle ein bisschen einen Knall.
Ihr Video zu einem Xavier Naidoo-Lied hat 120.000 Klicks.
Schon? Es ist echt verrückt. 2011 hat mich eine Volontärin über Facebook angeschrieben und ich dachte: Ja klar, was wollt ihr machen? Das ist doch verrückt!
Wie kamen die Hamburger denn auf Sie?
Einer vom NDR hat einen Clip aus USA gesehen, dann wollte man das auch probieren. Der Sender hat ein Jahr lang gesucht, bis jene Volontärin dann über Freunde auf eine Kommilitonin von mir gestoßen ist. Und die sagte: Ich kann das nicht, aber frag doch mal Laura.
Ihr Rampensau-Image?
Ich hoffe nicht! Wir hatten in der Woche vorher ein Uni-Seminar über andere Formen der Gebärdensprache – und da haben wir eben zu Rap gebärdet. Der Kommilitonin hat es wohl gefallen.
Hatten Sie auch mal eine Band?
Ich habe tatsächlich neben der Schule viel Musik gemacht, ich fing an zu tanzen und habe mit 14 Zeitungen ausgetragen, um Gesangsunterricht nehmen zu können. Und dann habe ich einem Freund Konzertauftritte verschafft – der spielte mit seiner Band immer nur in der Garage, ich fand, die müssen auf eine Bühne. Vor dem Abi habe ich ein Festival organisiert. Aber als Broterwerb sah ich das nicht. Also entschied ich mich für was Vernünftiges – und schrieb mich für Gebärdensprache ein.
Mit 15 machten Sie Praktikum an einer Gehörlosenschule. Wieso interessierte Sie das?
Als Kind habe ich im BR mal die Gehörlosen-Sendung „Sehen statt Hören“ gesehen, die wird in Gebärdensprache ausgestrahlt. Ich fand das super und verstand nicht, wieso mein Vater das nicht kann. Ich wollte das lernen.
Und dann wurde Ihr bester Freund Edie krank …
Als wir uns kennenlernten, war ich zwölf, er neun, wir waren sofort auf einer Welle. Innerhalb weniger Monate wurde er blind und taub. Wir haben uns eine Ersatzsprache ausgedacht. In seiner Klasse hatten sie ein Alphabet für Kinder mit Leseschwierigkeiten gelernt: Fürs N tippt man sich etwa auf die Nase. Als er nicht mehr sehen konnte, haben wir die Zeichen eben auf seiner Nase gemacht. Wir fuhrwerken uns bis heute gegenseitig im Gesicht rum. Oder wir lormen.
Dabei malt man dem anderen auf die Handfläche, oder?
Genau.
Hören Sie gemeinsam Musik?
Ehrlich gesagt, waren wir noch nie auf einem Konzert. Aber auf Partys steht er meist neben dem Lautsprecher, weil er den Bass so toll findet. Bei einer Freundin ist eine Box kaputt, für uns klingt das furchtbar, aber er findet sie super, weil sie so stark vibriert.
Auf der Bühne tragen Sie Schwarz, jetzt auch – warum?
Ich hatte gerade einen Einsatz. Gebärdensprachdolmetscher kleiden sich unifarben, damit man die Hände gut sieht. Schwarz ist am besten, gerade auf Entfernung. Ich habe immer ein schwarzes T-Shirt dabei. Ich bin im Berufsverband, da ist man in einem Pool und springt auch mal ein.
Derzeit dolmetschen Sie für den ersten gehörlosen Lehramtsstudenten in Berlin. Wie kam’s?
Wir kannten uns, also hat er mich gefragt. Weil ich mich thematisch mit dem Bildungsbereich auskenne, passt das. Es gibt Kollegen, die dolmetschen Physikvorlesungen im achten Semester – tut mir leid, das kann ich nicht.
Und wie helfen Sie ihm?
Ich sitze mit einer Kollegin neben dem Dozenten vor der Tafel, da sieht mein Auftraggeber mich gut. Wenn es länger als eine Stunde dauert, sind wir zu zweit und wechseln alle zehn Minuten.
Ist es revolutionär, dass es diesen Referendar gibt?
Ja. Es gibt schon taube Lehrer – dass das der erste Referendar in Berlin ist, ist traurig. Die Gebärdensprachengemeinschaft ist so groß, dass garantiert schon andere darüber nachgedacht haben.
Wie viele Gehörlose leben denn in Berlin?
Geschätzt zwischen 6.000 und 10.000, offizielle Zahlen gibt es nicht. Und etwa 60 Dolmetscher. Man kann sich ausrechnen, wie schwer es ist, zwei Mal die Woche zwei Dolmetscher für ein Seminar zu bekommen.
Wie weit ist Berlin denn mit der Inklusion?
Es muss noch normaler werden. Kinder müssen im Kindergarten und der Schule mit Kindern zusammen sein, die anders sind als sie. Wichtig wäre, dass existente Strukturen bekannter werden, etwas dass es ein Budget gibt, Dolmetscher wie mich und andere Unterstützung zu beantragen. Jetzt gibt es sogar einen Rückschritt.
Nämlich?
Der Senat ist dabei, Sonderpädagogik als eigene Fachrichtung abzuschaffen. Dafür soll jeder, der auf Lehramt studiert, auch ein bisschen Sonderpädagogik studieren. Aber wenn ich überlege, was ich bislang gelernt habe, weiß ich nicht, wie das funktionieren soll. Ich muss mehr, nicht weniger Ahnung von Gebärdenpraxis haben, um als Lehrer gut zu sein. Sieben- und Siebzehnjährige gebärden total unterschiedlich!
Woher wissen die Gehörlosen, dass sie nun einen Grund haben, zu Konzerten zu gehen?
Die Termine stehen mittlerweile im „Taubenschlag“, einem Internetportal für Gehörlose. Als ich das erste Mal im „Taubenschlag“ war, war das wie ein Ritterschlag – die Gehörlosen-Community ist eine sehr enge Gemeinschaft.
Also wie eine Parallelwelt?
Man redet tatsächlich von der Taubenwelt, es ist eine eigene Kultur. Am Anfang steht man daneben, sieht nur Hände fliegen und versteht kein Wort. Oft klären Gehörlosen erst mal, ob man wirklich gehörlos ist. „Du hörend?“ war die erste Frage, die ich gelernt habe.
Gibt es Orte, die typisch sind für diese Subkultur?
Ja, die Gehörlosenzentren am Halleschen Tor und über dem Frannz-Club. Wo mietet sich eine Gehörloseninitiative am besten ein? Über der Disco. Und viele treffen sich im „Kumpelnest 3000“ in Kreuzberg, weil es da mal einen bekannten gehörlosen Barmann gab. Als Hörende bleibt man ein Stück weit Außenseiter – aber Musik ist meine Brücke.
Gibt es eigentlich Bedenken bei den Veranstaltern?
Natürlich. Da tauchen Fragen auf wie: Muss unser Personal jetzt Gebärdensprache lernen? Müssen wir mehr Security einstellen? Was kostet das? Kommen unsere normalen Fans nicht mehr zum nächsten Konzert?
Seit diesem Jahr touren Sie auch mit der Ost-Rockband „Keimzeit“. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
Sie haben meine Musikvideos gesehen und mich angeschrieben. Zur Vorbereitung auf meinen ersten Live-Einsatz bin ich zu einem ihrer Auftritte gefahren. Während sie spielten, habe ich backstage geprobt. Ein Security-Mann machte sich wohl Sorgen und schickte die Sanitäter. An dem Abend saß ich mit dem harten Kern der Fans an der Bar, die sagten: Wir sind uns noch nicht sicher, ob wir das gut finden. Jetzt gebe ich mit der Band sogar Autogramme. Manche Fans reisen mir hinterher, das ist total verrückt.
Sie standen gerade mit der Band Selig und dem Filmorchester Babelsberg auf der Bühne. War das anders als sonst?
Ja, vor dem Auftritt war ich total nervös. Ich habe überlegt: Höre ich, wann die Flöte einsetzt, schaffe ich es, die Flöte von der Posaune zu unterscheiden?
Wie meinen Sie das?
Ich versuche, die Instrumente anzuzeigen, die dominant sind, gerade bei Passagen, in denen nicht gesungen wird. Mich ärgert, wenn ich sie nicht raushöre. Ich will eben so viel wie möglich weitergeben von dem, was ich auf einem Konzert erlebe. Aber das Zeichen für Trompete wie für viele andere Blasinstrumente sieht so aus: (tut, als halte sie eine Blockflöte). Man unterscheidet sie am Mundbild, die „Trompete“ erkennt man am O. Das habe ich einfach weggelassen, wenn ich nicht wusste, was es war.
Auf die Distanz sieht das Publikum das doch eh nicht.
Die meisten stehen weiter vorne, sie basteln sich das zusammen. Ich sehe sie also auch – einmal war ich fast empört, als ich merkte, dass sie sich unterhielten. Bis ich kapierte: Sie singen mit!
Wie bereiten Sie sich denn vor?
Die Texte habe ich idealerweise sechs Wochen vorher. Ich muss sie ja auswendig können. Ich höre das dann immer über Kopfhörer, wenn ich unterwegs bin. Und überlege dabei, welche Zeile ich mit welchem Bild übersetze.
Sie stehen gar nicht vor dem Spiegel und üben mit lauter Musik?
Ab und an. Die Lautstärke ist wichtig, damit ich mich konzentrieren kann. Etwa bei schnellen Liedern, in denen die Bildfolge sehr dicht ist. Dann muss ich zwischen den einzelnen Elementen kleine Pausensignale anzeigen, damit nichts missverstanden wird. Diese Stellen muss ich gut üben. Beim Proben kann man aber auch noch Dinge klären.
Zum Beispiel?
Ein Lied von Keimzeit heißt „Maggie“. Normalerweise würde man im Deutschen eine Maggi-Flasche andeuten, aber das wäre der Frau vielleicht nicht angemessen. Sie haben mir dann erklärt, was das für ein Typ Frau ist. Ich habe dann das Zeichen für „Die Schöne“ benutzt. Keimzeit geht mittlerweile auch direkt auf die Gebärdensprache ein.
Wie denn?
Bei der Zugabe denkt sich der Sänger spontan neue Texte aus. Und seit er weiß, wie die Geste für den Fernsehturm geht, singt er eben auch mal: „Fernsehturm! Fernsehturm! Fernsehturm!“
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