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: Wie kleine Sonnen gleißen Lampen hinter Fenstern

Clemens Klopfensteins „Geschichte der Nacht“ ist so etwas wie der erste Ambient-Film der Filmgeschichte

Kaum einer in der Filmszene der Gegenwart verkörpert so überzeugend den exzentrischen Außenseiter und Gesamtkünstler als formidable One-Man-Band wie der Schweizer Clemens Klopfenstein. Mit seinem Film im Film über Film „Die Vogelpredigt oder Das Schreien der Mönche“ (2005) hat er zuletzt, wie der Kritiker Bert Rebhandl notierte, eine Art „komische Summe“ seines erfindungsreichen Bastelwerks vorgelegt. Begonnen hat der 1944 geborene Künstler freilich als Maler, Zeichner und Fotograf. Nach einem wenig erfolgreichen Spielfilm geriet er 1972 mit einem Stipendium als Maler nach Rom, in Rom in die Nacht, und in der Nacht legte er hoch lichtempfindlichen Film in seine Fotokamera. Heraus kam dabei die zwölfteilige Serie „Paese Sera“. Daraus wurde eine „Filmidee“, die Geschichte zweier Liebender, die sich verfehlen im Dunkel der Nacht.

Diese Geschichte hat sich verflüchtigt. Aus dem 1979 fertig gestellten und vielleicht etwas irreführend betitelten Film „Geschichte der Nacht“ sind alle Liebenden, ja alle Fiktion und alle Narration verschwunden. Was wir sehen, sind einzig aneinander gereihte Filmaufnahmen in vielen, das Booklet sagt: 15, Städten Europas. Zu sehen ist die Stadt bei Nacht, ist die Nacht auf meist leeren Plätzen und Straßen in Städten, sind Lichter und Menschen im Dunkeln, sind kaum identifizierbare, jedenfalls nie identifizierte oder benannte Orte irgendwo in Europa. Die Reihung der Einstellungen hat, anders als beim nicht ganz unverwandt arbeitenden James Benning, kein festes formales Prinzip, also etwa die feste und gleiche Dauer der Einstellungen. Die Nächte und Städte und Plätze und Lichter gehen fast unbemerkt, jedenfalls ohne dass es Markierung oder Zäsur gäbe, ineinander über.

Sie bilden so eine einzige Nacht als vielgestaltiges Ineinander von Hell und Dunkel. Mehr milchiges Hell freilich als finsteres Dunkel, denn wie bereits in der Fotoserie ist das Filmmaterial sehr empfindlich. Wie kleine Sonnen gleißen Lampen hinter Fenstern in Wohnungen und das Licht der Laternen auf der Straße in den Bildern. Jede genauere zeitliche Zuordnung, frühe Nacht oder späte, später Abend oder früher Morgen, wird so beinahe unmöglich.

Und darum geht es auch nicht. Eher geht es darum, den Blick einzulassen ins Bild und das Geschehen im Bild, das allerdings fern jeden Spektakel- oder Ereignischarakters bleibt. Die Kamera, nicht statisch, aber doch recht wenig bewegt, bezeugt im Grunde nichts, und beinahe zeigt sie auch nichts. Vielmehr verweilt sie einfach, und das Einzige, was sich über die Zeit, den Raum und die Art des Aufenthalts des Betrachters im Geschehen sagen lässt, ist: Wir sind in der Nacht, und wir verlassen sie nicht.

Und es ist alles andere als unangenehm, auf diese Weise in der Nacht zu sein. Auch die Geräusche, Originaltöne gelegentlich, ganz leises Schlagzeug andernorts, drängen sich nicht auf. Diese Nacht umfängt uns mit einer schwer erklärlichen atmosphärischen Wärme, der wir uns gerne überlassen. Der Film und sein Blick, seine Bewegung, die ein Gleiten durch Raum und Zeit ist und kein Springen, fordern nichts von uns, sondern laden uns ein zu einem Sehen, das sich dem Gesehenen anschmiegt. Wir sind befreit von jedem Zwang zum Verfolgen irgendeiner Geschichte, nichts drängt uns zu Identifikation, nichts drängt uns zu Mitgefühl.

Oft sind die Szenen, auf denen der Blick der Kamera verweilt und die unseren Blick so zum Verweilen einladen, menschenleer. Nur die Straßen, Häuser, Schilder in fremden Sprachen und die Nacht. Manchmal tauchen Menschen auf, das Ende einer Party, eine fast gespenstische Band auf der Straße, aber die Kamera hält sich zurück, bleibt in einem merkwürdigen Mittelgrund zwischen Nähe und Distanz.

Falls „Geschichte der Nacht“ der erste Ambient-Film der Filmgeschichte sein sollte, so jedenfalls nicht der letzte. Nicht nur hat er mit Daniel Eisenbergs gleichfalls berückendem Werk „Something More than Night“ (USA, 2002) einen Nachfolger gefunden – Klopfenstein selbst hat eine Art Fortsetzung gedreht, „Transes“ (1981), eine Serie von Fahrten mit Auto und Bahn durch europäische Landschaften. Dieser Film ist ebenso auf der DVD zu finden wie der 22-minütige Geniestreich „Das Schlesische Tor“ (1982), der das östliche Kreuzberg der frühen Achtziger auf ebenso überraschende wie komische Weise mit Bildern und Musik aus China in Berührung bringt.

Die drei Filme ergeben ein so wundersames wie faszinierendes Triptychon, und „Geschichte der Nacht“ ist bei Lichte besehen eine der DVDs des Jahres.

EKKEHARD KNÖRER

Die DVD kann für 35 CHF plus Versandkosten bei www.artfilm.ch oder über tompfister@bluewin.ch bestellt werden. Weitere Informationen gibt es unter www.klopfenstein.net