„Ich verstehe echt nicht, warum die Leute feiern“

INTERVIEW Der südafrikanische Literaturprofessor Grant Farred über die Unmöglichkeit, Südafrika zu unterstützen, über seine glühende Liebe zum FC Liverpool und über den Zusammenhang zwischen den Denkern Steven Gerrard, Antonio Gramsci und Carl Schmitt

  Beruf: Professor für Literatur- und Kulturwissenschaften an der Cornell University, USA; sein Alter wollte er nicht verraten■  Familie: Verheiratet mit der Englisch-Professorin Jane Juffer, zwei Söhne, eine Tochter ■  Wohnort: Ithaca, New York ■  Das Buch: „Long Distance Love. A Passion for Football“. Temple University Press, 22.95 $ ■  Zum taz-Gespräch erklärte er sich bereit, „aber nur, wenn Sie mir ein Trikot von Paul Breitner besorgen“. Farred sprach trotzdem mit uns.■  Sein Team: FC Liverpool ■  Seine Spieler: Steven Gerrard, Javier Mascherano und alle anderen von Liverpool ■  Sein Fußballstil: The Liverpool Way (cw)

INTERVIEW CONSTANTIN WISSMANN

taz: Mr. Farred, wie enttäuscht sind Sie, dass Südafrika aus dem WM-Turnier flog?

Grant Farred: Gar nicht.

Unbegreiflich – da Sie doch in einem Township aufwuchsen und Fußballfan sind.

Ich glaube nicht an diese Nation. Das Ende der Apartheid hat das Leben der schwarzen Mehrheit nicht grundsätzlich verbessert. Ich fühle nichts für dieses Land. Jetzt herrscht ein absolut korruptes Regime, das Mördern wie dem Präsidenten von Simbabwe, Robert Mugabe, zur Hilfe eilt.

Haben Sie keine Hoffnung, dass sich Südafrika in eine wirklich demokratische Gesellschaft entwickeln kann?

Hoffnung? Das wäre der Ansatz von Antonio Gramsci, aber ich glaube nicht daran. Ich glaube einfach nicht an eine progressive Gesellschaft.

Freut Sie nicht der Optimismus, der mit der WM nach Südafrika gekommen ist?

Ja, die Leute sind optimistisch. Sie sprechen von der großen Zukunft dieser wunderbaren Regenbogennation Gottes: Lasst uns alle zusammen grillen und über die alten Zeiten sprechen.

Was stört Sie?

Dass das alles Mist ist. Menschen meiner Generation, die die Boykotte von 1980 erlebt haben, geht es gut, vielen jedenfalls. Aber der ANC war immer eine korrupte Gruppe der Mittelklasse. Für 90 Prozent der schwarzen Bevölkerung – der Arbeiterklasse in den Townships, wo ich aufgewachsen bin – war das Ende der Apartheid jedoch eine heftige Enttäuschung. Sie können jetzt zwar wählen, aber das macht ihr Leben nicht wirklich besser. Die Gesellschaft ist gewalttätiger geworden, Bildung und Wohnsituation haben sich drastisch verschlechtert. Natürlich ist das immer noch ein faszinierendes Land. Aber identifizieren kann ich mich damit nicht.

Warum können Sie sich nicht einfach mitfreuen?

Weil ich nicht verstehe, warum die Leute überhaupt feiern. Die Hälfte von denen, die durch die Weltmeisterschaft einen Job bekommen haben, sind ihn danach wieder los. Auch jetzt ist der Grad der Gewalt, des Verbrechens und der Zerstörung immer noch hoch, was von den Medien ziemlich vertuscht wird. Dazu kommen Repressalien der Regierung – eingeschlossene Gemeinden, gewalttätige Räumungen. Mein Gott, das ist wie 1978 in Argentinien.

Das Ende der Apartheid war mit vielleicht nicht einlösbaren Hoffnungen verbunden. Könnte die WM nicht ein Stück von der Euphorie zurückbringen?

Natürlich ist das ein Riesenereignis für Afrika, diese WM, sie ist jetzt schon von historischer Bedeutung. Schon jetzt ist klar, dass es messbare ökonomische Verbesserungen geben wird. Und ja, für jemanden wie mich, der Steine gegen die Apartheid geworfen hat, hat das auch etwas Wunderbares, dass hier eine Weltmeisterschaft stattfindet. Aber ob sich das Leben der Menschen wirklich verbessern wird?

Lassen Sie uns feiern!

Vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht sollte man einfach die große Party genießen. Das Problem mit Partys ist nur: Erstens muss man danach immer aufräumen, und zweitens wacht man mit einem Kater auf. Wer bezahlt dann die Rechnung für die Aspirin?

Sie stehen ja ohnehin auf den FC Liverpool, nicht wahr?

Ja – und vielleicht war dieser Verein ein möglicher Ausweg für mich aus dieser Nation, denn diese Nation hat aus ihrer Konstruktion und ihrem Sein heraus keinen Fortschrittsgeist.

Weshalb Liverpool? Ein Verein aus dem Land der Kolonialisten, der sich dazu mit schwarzen Spielern lange schwertat.

Das weiß ich selbst nicht genau. Bevor John Barnes – der erste schwarze Star – da war, war das sehr schmerzhaft für mich. Liverpool hatte kein Problem damit, während der Apartheid weiße südafrikanische Spieler zu verpflichten. Der erste schwarze Spieler, der Linksaußen Howard Gayle, der 1980 zum Club kam, wurde mit Bananen beworfen …

und keiner tat was.

Erst Kenny Dalglish machte mit diesem Dreck Schluss. John Barnes wurde unter ihm zum meiner Meinung nach besten englischen Spieler. Das war natürlich unglaublich wichtig für mich.

Wie kam es schließlich zu Ihrer Obsession mit dem FC Liverpool?

Per Zufall, weil ich in der Zeitung einen Artikel las. Erst danach entdeckte ich die Arbeiterklassewurzeln des Clubs. Das gefiel mir.

Welche Rolle spielte der Fußball für Sie in Ihrer Kindheit im Südafrika der Apartheid?

Das hört sich jetzt sehr pathetisch an, aber auf gewisse Weise hat die Liebe zum englischen Sport mein Leben gerettet. Ich wuchs ja in einem Township auf, wo alle nur Afrikaans sprachen und niemand die Schule abschloss. Durch den Sport konnte ich auf eine Mittelklasseschule gehen. Trotzdem verlor ich meine Wurzeln nicht, weil ich auf der Straße mit den Leuten aus dem Township spielte. So konnte ich mich in beiden Welten bewegen.

Gab Ihnen der Fußball Zuversicht, ein besseres Leben zu erreichen?

Nein, ich wusste ja, dass ich wahrscheinlich nie für Liverpool spielen würde. Hoffnung gab mir die Literatur. Mit 18 hatte ich die meisten Klassiker gelesen. Meine Welt war offen, obwohl es die Grenzen der Apartheid gab. Meine Lehrer sagten immer: „Sie können dir alles wegnehmen, aber deine Bildung behältst du für immer.“ Keiner weiß, was Menschen wirklich motiviert. Ich habe zwei Dinge gefunden: die Liebe zur Literatur und die Fernbeziehung zum FC Liverpool.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie den einstigen Liverpool-Trainer Bill Shankly vollkommen verstehen, wenn er sagt, Fußball sei wichtiger als Leben und Tod. Was meinen Sie damit?

Meine Frau, meine Kinder, meine Mutter – die sind nicht verhandelbar, alles andere schon. Mein Leben oder Liverpool? Keine Frage, Liverpool. Ich habe John Barnes getroffen, bin also mit Gott gegangen. Ich habe den wahren Weg, den „Liverpool way“, kennen gelernt. Mehr brauche ich nicht. Alles andere wäre inkonsequent, böse. Das Leben ist sehr einfach, finden Sie nicht?

Gut, und jetzt machen Sie mal die Ironielampen aus.

Wieso? Es ist die Wahrheit. Der „Liverpool Way“ ist ein ethisches Konzept. Es verlangt, dass man sein Leben für den Club gibt, dass man jede Minute auf dem Platz für ihn kämpft. Das macht Siege wie 2004 im Champions-League-Finale gegen AC Mailand nach einem 0:3 Rückstand möglich. Wir hören nie auf, an dieses Trikot zu glauben.

Das mag vielleicht für Sie gelten. Aber ist Fußball generell wichtiger als Leben und Tod?

Gut, vielleicht stimmt das nicht für den Rest der Welt, aber das ist mir egal. Für mich, in meiner Welt stimmt das. Wie Albert Einstein schon sagte: Vorstellung ist wichtiger als Wissen. Und für jemanden wie mich ist das wahr, denn schließlich lebe ich in meinem Kopf. Sonst könnte ich ja kein Akademiker sein. Und ich brauche den Rest der Welt gar nicht als Bestätigung.

Ist Fußball für Sie also wichtiger als Politik?

Aber klar. Mir ist egal, wer in Südafrika zum Präsidenten gewählt wird, aber es ist mir sehr wichtig, wen Liverpool als nächsten Trainer verpflichtet.

In Ihrem Buch schreiben Sie aber, dass unter der Apartheid alles immer politisch war, und Sport im Besonderen.

Das ist der große Widerspruch, mit dem ich leben muss. Natürlich würde ich gern einfach so Fußball spielen und schauen, ohne politischen Hintergedanken. Aber das geht nicht. Mir war immer bewusst, als Schüler, dass ich ein „Nicht-Bürger“ in meinem eigenen Land war, dass es die Schilder gab, auf denen „Nur für Weiße“ stand. Ich bin auch Fan des chilenischen Anti-Pinochet-Vereins Colo-Colo, den ich während der Diktatur spielen sah. Ich fragte mich, wie man unter so einem Regime Fußball spielen konnte. Aber für die Menschen wäre es viel schlimmer gewesen, nicht zu spielen.

Fansein ist Ihnen eine Form der politischen Parteinahme?

Wer in Südafrika aufgewachsen ist, weiß, wie eng Sport mit der Politik verknüpft ist. Ich könnte zum Beispiel nie Fan von Real Madrid sein, obwohl ich Spieler wie Alfredo Di Stefano und Zinedine Zidane bewundert habe. Wie kann ich einen Club unterstützen, dessen Stadion nach einem reuelosen Francisten, Santiago Bernabéu, benannt ist? Fansein ist eine hochintensive emotionale Beziehung, geformt von Politik. Das Konzept habe ich von Carl Schmitt und seinem Feind-Freund-Schema. Schmitt war ein widerlicher Mensch …

aber in Bezug auf Fußball hat er Recht?

Ich finde, dass sich kein anderes Team gegen Liverpool aufstellen dürfte. Alle unwürdig! Vor allem Everton-Fans. Warum wachen die überhaupt morgens auf? Sie müssen doch wissen, dass sie ein unwürdiges Leben führen! Schmitt sagt: „Ich kann dich sogar mögen, aber wenn du mein Feind bist, habe ich jedes Recht, dich zu töten.“ Also, so weit würde ich nicht gehen. Ich würde Everton-Fans nicht töten.

Das hört sich alles ziemlich archaisch und in gewissem Sinne romantisch an. Ist das mittlerweile nicht alles obsolet? Fußball ist doch einfach ein Geschäft, nichts weiter. Selbst Ihr FC Liverpool ist doch nur ein Vehikel für Investoren.

Bill Shankly sagte einmal, „Fußball, wie ich ihn sehe, ist eine Form des Sozialismus ohne die Politik“. Natürlich fällt es schwer, daran zu glauben, wenn ein Spieler 150.000 Euro in der Woche verdient. Das ist einfach obszön, vor allem in Liverpool. Aber trotzdem, ein Spieler wie Steven Gerrard glaubt immer noch an den „Liverpool Way“.

Glauben Sie ernsthaft, dass Gerrard bei Liverpool für die Arbeiterklasse kämpft?

Steven Gerrard ist auf seine Art ein tiefer Denker. Er denkt die ganze Zeit an Liverpool. Manche Spieler, die auch alles für den Club geben, ziehen das Trikot aus und tun normale Dinge, Gerrard nicht. Liverpool ist ein fundamentaler Teil seines Lebens.

Das ist eine Ausnahme?

Klar. Die meisten Spieler haben zumindest eine Ahnung davon. Vielleicht ist das die letzte Generation von Spielern, die etwas repräsentieren. Vielleicht wird die Kapitalisierung des Spiels das Spiel bald zerstören. Aber wenigstens gibt es noch Hoffnung.