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„In guten Kliniken wird geweint“

SCHMERZ Der Palliativarzt Matthias Gockel wird Tag für Tag mit der „Scheißangst“ vor dem Tod konfrontiert. Im sonntaz-Gespräch erzählt er, wie er mit dem Verlust hunderter Freunde lebt

Gegen den Schmerz

■  Die Definition: Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO ist Palliativmedizin die Behandlung von Patienten, die eine begrenzte Lebenserwartung haben, weil sie unter fortgeschrittenen, nicht heilbaren Erkrankungen leiden. Im Vordergrund steht nicht die Verlängerung der Lebenszeit, sondern das Wohl der Betroffenen. Behandelt werden körperliche, psychische, psychosoziale und spirituelle Schwierigkeiten, indem die Angehörigen und das soziale Umfeld einbezogen werden.

■  Die Lage: Palliativmediziner arbeiten in interdisziplinären Teams. Auch wenn sich bei manchen Erkrankungen nicht exakt sagen lässt, wann der Patient sterben wird, gesteht die Schmerzmedizin allen genau das gleiche Recht zu, dass ihr Leiden gelindert wird. Während es 1990 bundesweit nur 3 Palliativstationen gab, ist die Zahl bis zum Jahr 2009 laut der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin auf 180 angewachsen. Mehr Informationen auf: www.dgpalliativmedizin.de

INTERVIEW ANJA MAIER FOTOS WOLFGANG BORRS

Das Gespräch mit Matthias Gockel findet im Wohnzimmer statt, so heißt auf der Palliativstation in Berlin-Buch das kleine Zimmer, in dem Patienten fernsehen oder lesen können. Es ist still im Raum, nur draußen zwitschern leise Vögel. Während des Interviews klingelt immer wieder das Diensthandy. Einmal erfährt Gockel, dass ein Patient gestorben ist. Da unterbricht er und geht zu den Angehörigen. Gegen Ende des Gesprächs weint der Arzt. taz: Herr Doktor Gockel, was ist der Tod?

Matthias Gockel: Für einige Menschen eine Erlösung, für andere das absolute Schreckgespenst, in letzter Instanz völlig unbegreiflich. Es ist nicht mehr das Leben, definitiv nicht mehr das, was dich ausmacht. Irgendwas passiert da, man sieht einem Menschen an, dass er stirbt. Es gibt Momente, da denke ich, vielleicht ist da doch irgendwas, was den Körper gerade verlässt. Es ist teilweise unglaublich, wie entspannt Leute aussehen, die gestorben sind.

Alle?

Nein, nicht alle. Es gibt auch Menschen, denen sieht man an, dass es nicht leicht war. Aber die, die lächeln, an die erinnert man sich. Es gibt ein paar Gesichter, die haben mir die Angst vor dem Tod genommen – dieses Gefühl, es kann nicht ganz schlimm sein, was da passiert.

Wie möchten Sie sterben?Ich will wissen, dass ich sterbe. Ich will Zeit haben, mich mit dem Wissen auseinanderzusetzen. Sowohl für mich, weil ich glaube, da passieren einige wichtige Dinge. Als auch für Freunde und Angehörige. Was ich definitiv nicht will, ist das, wofür es die Palliativmedizin und -pflege gibt. Also Schmerzen, Übelkeit, Luftnot, die körperlichen Symptome. Und ich wünsche mir ein Umfeld von Leuten, die keine Scheu haben, mit mir darüber zu reden. Das ist etwas, was ich von fast allen Menschen hier höre: Der Freundeskreis dünnt sich aus, wenn klar ist, ich werde sterben.

Warum ist das so?

Weil die Leute eine Scheißangst haben vor dem Tod, das gilt auch für uns Ärzte. Angst, durch einen Sterbenden mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden. Es fehlt das soziale Handwerkszeug, damit umzugehen. Was sage ich? Bis morgen? Gibt’s dieses Morgen?

Was sagen Sie, wenn Sie aus dem Patientenzimmer gehen?

Ich wünsche Ihnen alles Gute. Und das sage ich auch jemandem, der am nächsten Tag wahrscheinlich nicht mehr lebt. Denn das gilt auch für die letzten dreißig Sekunden jedes Menschen.

Würden Sie hier, auf der Palliativstation, sterben wollen?

Von der medizinischen Seite her: ja und lieber als auf einer Normalstation. Wobei es schwierig sein kann, von Kollegen und Freunden behandelt zu werden.

Und wenn nicht im Krankenhaus – wo dann?

Da gibt es ein paar Berge in Irland, wo ich mir das gut vorstellen könnte, ein besonderer Ort für mich, da möchte ich an diesen Felsen gelehnt in die untergehende Sonne gucken … Das ist die romantische Seite. Aber der Pragmatiker in mir weiß, dass ich erstens in krankem Zustand nicht auf den Berg hochkomme, und zweitens kann es sein, dass ich nach dem Sonnenuntergang weiterlebe, ich mir am nächsten Morgen den Hintern abfriere und mich jemand abholen muss.

Der exakte Todeszeitpunkt lässt sich vorher schwer bestimmen.

Wir erleben hier Menschen, die die letzte große Reise gemacht haben und erwarten, nun zu sterben. Das Werk ist vollbracht, der Vorhang zerrissen, das war’s – eine Woche später sind sie aber immer noch da. Diese Menschen haben dann das Gefühl, um das große Finale betrogen worden zu sein. Das Leben ist halt einfach nicht fair.

Sie können nur den Schmerz lindern, nicht mehr helfen.

Das Bild von der Palliativstation als Sterbestation ist falsch. Wir sind da, um das Leben bis zum Tod so lebenswert wie möglich zu machen, gerade bei unheilbaren Erkrankungen. Man darf bei uns sterben, man muss es aber nicht. Die Hälfte der Patienten stirbt hier, und die andere Hälfte geht wieder – mit weniger Schmerzen, Luftnot oder Übelkeit.

Wohin?

Im Idealfall nach Hause. Das funktioniert aber, auch angesichts der Demografie, immer weniger. Wir haben bei Älteren oft Angehörige, die eigentlich selbst Hilfe brauchen, die von der Situation völlig überfordert sind. Dieses Klischeebild „im Kreise seiner Familie sterben“ kann ziemlich anstrengend sein. Vierundzwanzig Stunden neben einem Sterbenden zu sitzen, das schafft nicht jeder. Deshalb sind die Hospize so wichtig.

Wie offen sprechen Sie mit den Angehörigen?

Das ist immer eine Gratwanderung. Womit erzeuge ich womöglich Angst? Wie viel Aufklärung muss sein, um Katastrophen zu Hause zu verhindern? Wo ich dann auch sage: Hospiz wäre vielleicht eine Option, die mehr Sinn macht als häusliche Pflege. Dort werden diese schwer kranken Patienten langfristig pflegerisch versorgt. Das können und dürfen wir als Akutstation nicht leisten.

Warum nicht?

Wir sind keine Pflegestation. Um hierhin zu kommen, braucht es eine Indikation, also ein Problem, das dann bestmöglich behandelt wird. Bei uns bleiben die Patienten etwa zehn Tage, das ist der Bundesdurchschnitt.

Woran sterben diese Leute?

Oft wissen wir es nicht. Bei Tumorerkrankten sehen wir einfach, die Leute werden weniger, ohne dass wir unmittelbar eine Todesursache sagen können. Die meisten schlafen ein. Relativ selten gibt es dramatische Verläufe, mit Erstickungsanfällen oder Blutungen – wenn sie nicht gut behandelt werden.

Was tut am meisten weh?

Wenn größere Gefäße sich verschließen, weil ein Tumor darauf drückt, kann das extrem schmerzhaft sein. Oder Tumore, die im Bereich des Rückenmarks oder an großen Nerven sitzen. Ich habe in den vergangenen zehn Jahren drei, vier Patienten gehabt, die sehr akut darüber nachgedacht haben, ob sie sich nicht suizidieren sollen, weil das das kleinere Übel wäre. Man kann diese Schmerzen verhältnismäßig gut behandeln, aber es ist aufwendig, nicht jeder Arzt weiß, wie. Das ist erschreckend. Es kann einfach nicht sein, dass es so wenige Ärzte gibt, die wissen, wie man Nervenschmerzen behandelt.

Sterben die Patienten ruhig oder eher wütend?

Wir sehen teilweise eine Erleichterung: Jetzt hat’s endlich ein Ende, mir werden die Schmerzen genommen, ohne dass man mir eine weitere Therapie anbietet. Erleichterung, dass nicht mehr gekämpft werden muss. Es gibt auch Wut über die Ungerechtigkeit des Lebens. Überraschenderweise sterben jüngere Patienten mit Anfang, Mitte zwanzig oft gelassener.

Was heißt gelassener?

Vielleicht schmerzt es weniger, wenn das Schicksal verhindert, Träume zu verwirklichen, als festzustellen, dass man das durch eigene Entscheidungen selber getan hat. Deutlich härter ist es oft für die Mittvierzig- bis Mittfünfzigjährigen, die mitten im Leben stehen, aber schon einige persönliche Opfer für ihre Zukunftsplanung erbracht haben. Ihnen macht so eine Erkrankung einen Strich durch die Rechnung, verhindert, dass sie den „Lohn“ für diese Opfer erhalten. Diese Patienten sind öfter gefrustet, wütend, zornig.

Schieben Sie selbst deshalb weniger Dinge auf?

Das bringt diese Arbeit mit sich, sich die Frage zu stellen: Ist übernächstes Jahr wirklich der richtige Zeitpunkt, dieses oder jenes anzugehen, oder wäre nicht genau genommen heute besser?

Gönnen Sie sich in Ihrer Freizeit mehr?

Durch meine Arbeit haben sich viele Prioritäten verschoben. Statussachen – mein Haus, mein Auto, meine Yacht, so was – waren nie sehr ausgeprägt und sind noch unwichtiger geworden. Für mich zählen Situationen und Erlebnisse: Kajak fahren, in die Berge gehen, Zeit mit Freunden. Gleichzeitig habe ich in dieser Arbeit den absoluten Luxus, dass ich von ihrer Sinnhaftigkeit überzeugt bin und mir das eine unglaubliche menschliche Befriedigung gibt. Und ich bekomme ein unmittelbares Feedback, dass ich sie gut mache. Das ist ein Geschenk.

Was ist jetzt Ihr Plan für eine gute Zeit?

Weniger Überstunden.

Das ist ein Widerspruch, oder?

Ja, aber der Aufbau dieser Station ist mir sehr, sehr wichtig. Dafür gehe ich Kompromisse ein. Es ist das, was mich zufrieden macht.

„Die Leute haben eine Scheißangst vor dem Tod, auch wir Ärzte. Angst, mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden“

Woher kommt diese Zufriedenheit?

Das eine ist die gute Symptomkontrolle. Wenn ein Mensch mit mehr Schmerzen hierher kommt, als er von uns geht, das gibt eine unmittelbare Zufriedenheit, handwerklich. Das andere ist komplizierter. Das hat was mit Verbindung, mit Sicherheit zu tun. Zu sehen, es gelingt uns hier als Team, eine Familie wieder in Kommunikation zu bringen, wo das Thema Tod nicht mehr tabu ist, sondern eine völlig berechtigte Quelle von Traurigkeit, die auch einer Freude Platz macht. Es wird geweint hier und gelacht. Wenn mir jemand sagt, danke für alles, was Sie für mich getan haben, und wenn es wieder so weit ist, würde ich gerne zu Ihnen zum Sterben kommen, dann hat das was mit Geborgenheit zu tun.

Wann stoßen Sie an Grenzen?

Es gibt Tage, da merke ich, mehr geht nicht. Gute Schmerzkontrolle geht immer, aber Patientengespräche über die existenziellen Dinge gehen nicht jeden Tag beliebig. Es gibt Tage, da sind zwei intensive Gespräche das Maximum, und es gibt Tage, da geht nicht mal das. Ich habe nicht den Anspruch, die Erkrankungen zu heilen, daher ist es auch keine berufliche Enttäuschung, das nicht zu können. Die Belastung entsteht an anderer Stelle. Du musst spüren, was das Sterben für die Menschen bedeutet, dass sie leiden. Auf der anderen Seite bist du vielleicht selbst nur einen Blutwert, eine Röntgenaufnahme von derselben Diagnose entfernt. Du könntest genau dieser Patient sein. Wenn du also nicht spürst, was mit diesem Menschen passiert, dann solltest du nicht hier arbeiten. Dann fehlt dir eine Qualität, die diese Menschen von dir brauchen. Nur: wenn du wahrnimmst, was sie spüren, dann kannst du eigentlich nicht über einen langen Zeitraum hier arbeiten, das hältst du nicht aus.

Wie lösen Sie diesen Widerspruch?

Ich löse ihn nicht, ich halte ihn einfach aus.

Worüber sprechen Sie mit Patienten, wenn Sie beide wissen, es geht zu Ende?

Da geht es um die großen Fragen. Habe ich ein gutes Leben gelebt, war ich ein guter Mensch? Was hätte ich anders machen können, wovon habe ich geträumt, wovor habe ich Angst? Gibt es Gott? Hasst Gott mich? Meine Erkrankung legt den Verdacht nahe. Die Patienten, die hier sind, wissen meist, dass sie nur noch eine sehr kurze Zeit haben, deshalb findet hier wenig Smalltalk statt, Gespräche werden extrem intensiv. Wofür ich im Privaten vielleicht Wochen, Monate bräuchte, nämlich Menschen kennen zulernen, das kann hier manchmal schon an einem halben Tag oder einem ganzen Tag laufen.

Haben Sie sich mit Patienten angefreundet?

Ich mache das jetzt seit zehn Jahren und ich schätze, ich habe in dieser Zeit drei- bis viertausend Patienten betreut. Da gibt es vielleicht fünfhundert, mit denen ich ein sehr nahes Verhältnis hatte bis hin zu dem Punkt, wo ich sagen würde, innerhalb teilweise weniger Tage war das wie eine Freundschaft für mich. Es geht nicht spurlos an einem vorbei, wenn man ein paar hundert Freunde verliert. Ich weiß, wir müssen alle sterben. Aber es gibt Tage, da geht das gar nicht.

Dann weinen Sie …

Das gehört für mich dazu. Diese Nummer „Wir sind cool, wir sind hart“, die weigere ich mich durchzuziehen, nur weil das hier ein Krankenhaus ist.

Sehen Ihre Kollegen Sie weinen, die Schwestern und Pfleger?

Ja, und ich glaube, es verändert die Qualität eines Krankenhauses, wenn man da auch weinen darf. Ich bin auch Akutmediziner, ich kann reanimieren und invasive Dinge tun, schnelle Entscheidungen treffen. Aber ich werde nicht besser, wenn ich so tue, als würde es keine Spuren bei mir hinterlassen. In Krankenhäusern ist es nicht üblich zu sagen: Ja, das berührt mich. Hier aber darf ich sagen, entschuldigt bitte, ich brauche eine kurze Auszeit, dieser Patient ist gestorben, das geht mir nahe.

Haben Sie schon einmal am Bett eines Patienten geweint?

Ja.

Wie empfindet der Patient das, möchte der nicht von Ihnen beschützt werden?

Dass ich weine, zeigt zunächst einmal nur, dass mich etwas berührt. Es sagt nichts darüber aus, ob ich noch professionell handlungsfähig bin. Und das bin ich. Es ist ein Unterschied, ob ein Patient mir erzählt, warum er traurig ist, und mir läuft eine Träne herunter. Oder ob ich auf seinem Bett zusammenbreche und rufe: Oh mein Gott, wir sind verloren! Da würde ich als Patient mich auch fragen, ob ich hier in guten Händen bin. Wenn dein behandelnder Arzt feuchte Augen kriegt, merkst du, dass du als Mensch mit deinen Sorgen und Ängsten ernst genommen wirst.

Wenn ein Patient verstorben ist, wie lange haben die Angehörigen Zeit, Abschied zu nehmen?

Die Phasen unmittelbar vor und nach dem Tod haben einen wichtigen Anteil daran, wie die Angehörigen weiterleben. Für sie ist das Gefühl, mein Verstorbener wird entsorgt, weggeschafft, sehr unangenehm. Wir versuchen hier einen Kompromiss zu finden. Aber ich kann kein Bett freilassen, wenn zu Hause jemand mit Schmerzen auf einen Platz wartet. Wenn jemand abends stirbt, bleibt er manchmal hier bis zum nächsten Morgen. Wenn jemand frühmorgens stirbt, kann es sein, dass wir schon am Nachmittag wieder jemanden aufnehmen. Das fühlt sich dann sehr eng an.

Was tun die Angehörigen mit der Zeit, die ihnen bleibt?Manche halten über Stunden eine Art Totenwache, manchen reichen fünf Minuten allein, einige wollen den Verstorbenen gar nicht sehen.

Was empfehlen Sie?

Auf den Bauch hören. Manchen tut der Anblick gut, weil er noch einmal etwas verändern kann.

Gibt es Zeiten, zu denen Menschen mehr sterben – Jahreszeiten, Tageszeiten, Daten?

Runde Geburtstage, Hochzeit der Kinder werden oft noch mitgenommen. Dann stirbt der Patient. Das kann man sich nicht rein naturwissenschaftlich erklären. Was auch viele andere Kollegen schildern, ist, dass oft drei Menschen in kurzem zeitlichem Abstand gehen.

Wie? Die Patienten wissen doch nichts voneinander.

Es ist nicht alles nur Naturwissenschaft.

„Da fragst du dich: Ist das, was wir einen Erfolg nennen, die Verlängerung der Lebenszeit, ist es das wirklich wert?“

Palliativstationen werden in Deutschland zusehends großzügiger mit Zeit und Raum ausgestattet. Was sagt das über dieses Land?

Dass sich einerseits etwas ändert, wenn auch langsam. Dass anerkannt wird, dass es Probleme gibt, die sich nicht technisch lösen lassen. Dass es Bedürfnisse gibt, für die Nähe da sein muss. Es sagt uns, dass die Hoffnung auf ein menschliches Miteinander wächst. Aber gleichzeitig besteht das Risiko, dass es den Tod in Spezialabteilungen „auslagert“. Wir brauchen einen generell anderen Umgang mit Tod und Sterben in Krankenhäusern, nicht nur auf spezialisierten Inseln.

Wie sollen wir sterben?

Ein nicht unerheblicher Teil der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt, dass wir sterben. Da helfen auch keine Sonntagsreden. Ich weiß, dass ich sterben muss, und ich weiß, dass es einige sehr hässliche Arten gibt. In dieser Gesellschaft kann ich mich gut vor dieser Erkenntnis drücken. Aber diese Verdrängung hat einen Preis.

Gibt es immer mehr neue Palliativstationen auch deshalb, weil nun die 68er-Generation zu sterben beginnt, die selbstbestimmt gelebt hat und so auch gehen möchte?

Das ist der eine Punkt. Die 68er haben ein anderes Selbstbewusstsein, einen anderen Umgang mit Autoritäten und viel bessere Möglichkeiten, sich zu informieren. Das macht sie selbstbewusster gegenüber Ärzten. Sie sagen dann: Aber die Chemotherapie macht doch nicht so viel Sinn, wenn ich dadurch nur vier Wochen länger lebe. Da kann ich als Arzt nicht mehr so gut ausweichen.

Was ist der andere Punkt?

Das ist der Umstand und das Wissen darum, dass wir heute medizinische Möglichkeiten haben, die nicht nur positive Seiten haben, sondern einem Menschen die letzte Lebensphase auch so richtig versauen können. Böse gesagt: Wir können Menschen heute auf eine Art zu Tode schinden, die hatten wir vor zwanzig Jahren einfach noch nicht. Da stellt sich der mündige Patient natürlich die Frage: Bis wohin tue ich mir so etwas an? Gibt es zur klassischen Medizin, die vor allem auf Heilung ausgerichtet ist, nicht auch eine Alternative?

Sind Sie daran schon verzweifelt?

Ich habe mal eine Patientin betreut, bei der ich viel darüber nachgedacht habe. Die war gerade achtzehn geworden, hatte einen extrem bösartigen Hirntumor. Es war klar, dass sie daran sterben würde. Sie war operiert und bestrahlt worden, benötigte hohe Dosen Kortison und war trotzdem nicht mehr kommunikationsfähig. Sie kam wegen Schmerzen auf die Palliativstation, ohne Haare nach der Bestrahlung, so schnell aufgeschwemmt vom Kortison, dass sie überall Dehnungsstreifen in der Haut hatte. Der Vater saß jeden Tag weinend am Bett und sah zu, wie sein Kind stirbt. Und dann hat er mal ein Foto mitgebracht. Da habe ich erfahren, dass das Mädchen aus einer Zirkusfamilie kam, Trapezturnerin, und der weinende Vater, den ich jeden Tag gesehen hatte, war ein Clown. Auf dem Bild war sie siebzehn, schlank, sportlich mit langen schwarzen Haaren.

Man hatte versucht, sie zu heilen.

Klassisch schulmedizinisch war alles richtig gemacht worden, die Überlebenszeit effizient verlängert. Aber ich fragte mich, ob es ein Erfolg ist, dass die Medizin aus dieser Trapezkünstlerin in einem Dreivierteljahr ein glatzköpfiges bewegungs- und sprachunfähiges Wesen gemacht hat, das selbst von Freunden kaum noch wiederzuerkennen war. Da fragst du dich dann: Ist das, was wir einen Erfolg nennen, die Verlängerung der Lebenszeit, ist es das wirklich wert?

Und dann ist sie gestorben?

Dann ist sie gestorben.

Anja Maier, 44, ist sonntaz-Redakteurin

Wolfgang Borrs, 49, ist freier Fotograf in Berlin

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