Der „Bulldozer“ kämpft nicht mehr

NACHRUF Ariel Scharon hat jahrzehntelang die Politik seines Landes mit geprägt – als Kriegsherr, Erbauer von Siedlungen, aber auch als Initiator des Abzugs aus dem Gazastreifen. Er gehörte der Gründergeneration Israels an und war bis zum Schluss umstritten

„Er ist gegangen, als er sich entschieden hat, zu gehen“

GILAD SCHARON

AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL

Ein solches Ende mögen ihm selbst seine schlimmsten Feinde nicht gewünscht haben. Acht Jahre lang lag der ehemalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon im Koma. Ein Nierenversagen machte seinem Leiden ein Ende. „Es ist vorbei“, verkündete sein Sohn Gilad am Samstag. „Er ist gegangen, als er sich entschieden hat, zu gehen.“

Ohne Rücksicht auf Verluste war der „Bulldozer“ nach vorn geprescht, wenn es galt, Terroranschläge zu rächen oder in Feindesland vorzustoßen, wenn Wohnungen für die nach Israel einwandernden Russen gebaut werden mussten, um Siedlungen zu errichten und später, um sie wieder abzureißen. Nun, nach Scharons Tod, wird nicht sein früherer Parteifreund Benjamin Netanjahu um ihn trauern, sondern Staatspräsident Schimon Peres von der Arbeitspartei, der ihm ungeachtet ihrer politischen Differenzen über Jahrzehnte ein enger Freund war.

Ganz ähnlich wie einst Regierungschef Yizhak Rabin im Alter umdachte, wurde der Falke Scharon in seinen letzten Wirkungsjahren zahm. „Keine einzige Siedlung wird geräumt, denn ein Abzug würde nur den Terror ermutigen“, hatte er noch im April 2002 gesagt. Kaum ein Jahr später zeigte er sich überzeugt davon, dass „es langfristig für Israel besser ist, wenn es keine jüdischen Siedlungen im Gazastreifen gibt“. Der Abzug aus dem Gazastreifen sollte der Anfang vom Ende der israelischen Besatzung sein, eine „historische Entscheidung“ jubelte Ex-Justizminister Tommi Lapid damals.

Trotz Abzug blieb der Frieden aus, und trotz Abzug wird ihn die Nachwelt eher aufgrund seiner unterlassenen Hilfeleistung für die palästinensischen Flüchtlinge in Sabra und Shatila erinnern als für die Auflösung von Siedlungen. Scharon war ein Mann, der Emotionen auslöste – gute wie schlechte. Mit schweren Schritten stapfte der hochgewachsene, übergewichtige Soldat und Politiker mal über blutige Schlachtfelder, mal über rote Teppiche. Aus der Persona non grata von einst war gegen Ende seiner politischen Karriere einer der respektiertesten Gäste nicht nur im Weißen Haus geworden.

„In der Galerie der großen israelischen Regierungschefs in der Geschichte Israels reiht sich Arik (Ariel) in die mythologischer Figuren wie David Ben-Gurion, Menachem Begin und Jizhak Rabin ein“, schrieb Tommi Lapid über seinen nicht immer gut gelittenen Freund kurz nach dessen Erkrankung. „Die Geschichte des Jungen aus dem Moschaw Kfar Malal ist auch die israelische Sage der Armee und Eretz Israel, von Blut und Erde.“

Als Ariel Scheinerman kam Scharon 1928 im damals britisch regierten Palästina zur Welt, schloss sich schon als junger Mann dem jüdischen Untergrund an und organisierte die Haganah, aus der später die Israelische Verteidigungsarmee hervorging. Im Unabhängigkeitskrieg 1948 wurde er zum ersten Mal lebensbedrohlich verletzt. Rang und Namen verschaffte er sich mit seiner berüchtigten Einheit 101, eine Gruppe gnadenloser Rowdies, die mit dem Auftrag zu töten auszogen, um arabische Überfälle zu rächen.

Im Verlauf des Sechstagekrieges errang der auf Anraten des damaligen Ministerpräsidenten Ben-Gurion in Scharon umbenannte Soldat den Rang des Brigadegenerals und kommandierte die Einheit, die Ostjerusalem stürmte. Von 1973 bis 1974 und von 1977 bis 2006 war er Abgeordneter, allerdings nicht für die Arbeitspartei Ben-Gurions, sondern für den Likud, den er selbst mitgegründet hatte. Menachem Begin, der ab 1977 Israel regierte, ernannte ihn zunächst zum Landwirtschafts-, später zum Verteidigungsminister.

Gemeinsam begannen Begin und Scharon 1982 den Libanonfeldzug. Es ist das dunkelste Kapitel Scharons, der die Schlachten als Verteidigungsminister über weite Strecken hinter dem Rücken Begins führte. Ziel war, die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO im nördlichen Nachbarland soweit zurückzutreiben, dass sie Israel nicht länger gefährlich werden konnte. Der Feldzug endete mit dem von christlichen Milizen verübten Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila bei Beirut, dem Scharon keinen Einhalt gebot. Ein israelisches Militärtribunal machte ihn indirekt für das Massaker verantwortlich. Scharon durfte das Amt des Verteidigungsministers nicht mehr ausüben.

Das Urteil schien das politische Aus für Scharon zu bedeuten. Doch Anfang der 90er Jahre stand er wieder im Dienst des Staates, als er unter dem konservativen Jizhak Schamir ins Bauministerium beordert wurde. Innerhalb kürzester Zeit schaffte der „Bulldozer“ Wohnraum für Hunderttausende Immigranten aus den ehemaligen Sowjetstaaten und setzte fort, was er als Landwirtschaftsminister angefangen hatte: Er baute Siedlungen. 1998 machte ihn sein späterer parteiinterner Erzrivale Netanjahu zum Außenminister. Scharon übernahm 1999 nach einer Wahlschlappe den Parteivorsitz, und schon zwei Jahre später schaffte er den Sprung ins höchste Regierungsamt.

Zu diesem Zeitpunkt wütete die Zweite Intifada, die Scharon selbst mit ausgelöst hatte, als er umgeben von Hunderten Sicherheitsleuten den Tempelberg besuchte. In Reaktion auf den Terror schickte er die Armee in die palästinensischen Flüchtlingslager und belagerte seinen Erzrivalen Jassir Arafat in der Muqataa, dem Hauptquartier des Palästinenserpräsidenten. Als Scharon die Tonart wechselte, wusste niemand, ob er es erst meinte. „Wollt ihr denn ewig in Jenin bleiben?“ fragte er im Mai 2003 die Mitglieder der Likudfraktion: „Die Besatzung von 5,3 Millionen Palästinensern fortzusetzen, ist eine schlechte Idee, schlecht für Israel und schlecht für die Palästinenser.“

Der Überraschung folgte Skepsis, und schließlich änderten sich die Fronten: Israels Linke unterstützte die Regierungspolitik mit Massenkundgebungen, während sich die Siedler im Gazastreifen für den Widerstand gegen die von Scharon geplante Evakuierung bereitmachten.

Der Likud kam mit dem Umdenken des Chefs nicht mit. Wenige Monate nach dem Abzug spaltete Scharon seine alte Bewegung, um die liberale Kadima zu gründen, der er bis zu seiner Erkrankung vorstand. „Ich bin sicher, dass ich das überstehe“, glaubte Scharon nach seinem ersten leichten Schlaganfall, doch zwei Wochen später, am 4. Januar 2006, fiel er nach einer Hirnblutung ins Koma.