„Ich interessiere mich überhaupt nicht für Inseln“

NESOPHILIE Seit der Antike sind Inseln für Dichter und Künstler ein Ort, der sie inspiriert. Der Kulturwissenschaftler Volkmar Billig hat untersucht, was hinter dieser „Inselfaszination“ steckt und was die Leute auf diesen Inseln eigentlich suchen

■ geb. 1963, studierte Kulturwissenschaft, Philosophie und Religionswissenschaft in Berlin.

■ Er leitete verschiedene Ausstellungs- und Forschungsprojekte und Konferenzen unter anderem zu „Mechanismen des Vergessens“ in der bildenden Kunst, publiziert in Katalogen, Sammelbänden und Zeitschriften zu kultur- und kunsttheoretischen Themen.

■ Er lebt und arbeitet als Kulturwissenschaftler, Ausstellungskurator und Publizist in Dresden und Chemnitz.

INTERVIEW DORIS AKRAP

taz: Herr Billig, warum interessieren Sie sich für Inseln?

Volkmar Billig: Ich interessiere mich überhaupt nicht für Inseln. Was mich interessiert, sind die Projektionen, die Dichter und Künstler auf die Inseln gerichtet haben. Diese Projektionen spiegeln wider, wie sich der moderne Mensch erfährt.

In Ihrem Buch sprechen Sie vom „Tahiti-Diskurs“. Dieser habe eine radikale Veränderung in der Wahrnehmung von Inseln bedeutet. Was genau meinen Sie damit?

Inseln waren immer schon Schauplatz der Literatur, im 18. Jahrhundert entwickelt sich aber der erste Inseltourismus, der die Dichter und Künstler auf die Inseln führt: Goethe nach Sizilien, Gauguin nach Tahiti. Inseln werden im letzten Drittel des 18. Jahrhundert als Ort aufgefasst, an dem der Mensch zu finden glaubt, was ihm im Lauf der Zivilisation verloren gegangen ist. Das Jahr 1767/68 liefert da die Initialzündung. Innerhalb eines Jahres landen auf Tahiti drei Expeditionen von Wallis, Bougainville und Cook. Ihre Schilderungen sprechen von einem wahrhaft irdischen Paradies und entsprechen dem, was die Rousseauisten zuvor als Naturzustand theoretisch entworfen haben. In einem Roman bei Jean Paul gibt es die schöne Metapher von der Insel der Vereinigung. Das ist es, was der moderne Mensch, der auf den Inseln auftaucht, sucht. Erst die Vereinigung mit dem zurückgelassenen Teil ermöglicht es ihm, sich als Organismus von Welt und Geschichte zu denken.

Was hat der Mensch denn vorher auf den Inseln gesucht?

In dem Jahrhundert davor war es das einsame Subjekt, das kartesische Ich, auf das sich die Inselvorstellung bezog. Das Paradebeispiel ist Robinson Crusoe, der einsame Mensch auf der einsamen Insel, der um sich herum ein Kulturexperiment versucht. In dem Zusammenhang ist die historische Wortbildung interessant. Im Englischen heißt es „island“, sprich I-Land, also Ichland, aus dem das altgermanische Eiland wurde. In Spanien wurde aus der isola das solo herausbuchstabiert, auch hier wird der Bezug auf das einzelne Subjekt hergestellt. Das denkende Subjekt als Mittelpunkt entwickelt sich Mitte des 17. Jahrhunderts parallel zur Herausbildung eines heliozentrischen Weltbilds, in dem die Sonne den Mittelpunkt darstellt. Die Sonneninsel spielt noch bei Robinson Crusoe als Spiegel eines erleuchteten Individuums eine große Rolle.

Aber zurück zu der Suche nach dem Verlorenen: Der Tourist auf Mallorca sucht heute doch weniger das, was er verloren hat, sondern das, was er von zu Hause kennt, zum Beispiel Jürgen Drews?

Der Massentourist verkörpert diese merkwürdige Ambivalenz. Dass er immer wieder auf diese Insel fährt, zeigt, dass er das, was er gesucht hat, nicht gefunden hat. Überhaupt beginnt der Massentourismus ja mit Inseln. 1891 findet die erste Kreuzfahrt der Hapag durch die Inselwelt des Mittelmeers statt. Parallel dazu taucht das Massenmedium auf. Die ersten Taschenromane erschließen die Inseln als fernen Abenteuerspielplatz für ein breites Publikum. Es gibt einen Boom von Robinson Crusoe und Atlantis-Romanen, und dann kommt das Kino. Eine der ersten Spielfilme war die „Meuterei auf der Bounty“. Mit dem Tonfilm kommt der Schlager, dieselben Inseln, die in der romantischen Epoche hehre Schauplätze romantischer Poesie waren, die Isola Bella im Lago Maggiore, auf die sich Goethe in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ bezieht, oder das Capri von Wilhelm Waiblinger. Das werden Inseln für alle. Mit Inselerfahrung hat der moderne Tourismus freilich nicht mehr viel zu tun. Mallorca hat ja durch die verkehrsmäßige Erschließung den Charakter einer Insel längst verloren, wird aber immer noch unter der Marke des Insularen verkauft. Sie ist eigentlich nur noch virtuell ein insularer Raum, eine Projektion von Insel und keine Insel mehr.

Kürzlich wurde bekannt, dass die künstliche Inselwelt in Dubai, The World, aufgrund des steigenden Meeresspiegels versinken könnte. Das passt zu Ihrer These, dass auf jede Erfindung einer Insel auch ihr Untergang folgt.

Ja, was ich damit meine, ist die die Vorstellung, die auf neu entdeckte Inseln gerichtet wird, immer eine Art goldenes Zeitalter dort vorzufinden. Doch schon in Homers „Odyssee“ kippen diese Vorstellungen immer und schlagen in eine Bedrohung um. Das hat etwas damit zu tun, dass diese Inseln durch ihre Distanz zum Festland mit einer Unsicherheit verbunden sind: Sie sind an der Grenzen von Realität angesiedelt, sie können verschwinden – siehe das versunkene Atlantis – von seltsamen Personen bevölkert werden, Berichte von Kannibalismus gibt es von Anfang an, noch Robinson Crusoe lebt immer in der Angst, mit seiner Kulturaufgabe zu scheitern. Man kann nie 100 Prozent sicher sein, ob das, was einer berichtet, der auf einer Insel war, der Wahrheit entspricht. Die berühmten literarischen Inseln folgen immer dem simplen Plot, dass ein einzelner Mensch von einer Reise zurückkehrt und niemand bezeugen oder belegen kann, ob es stimmt, was er dort gesehen und erlebt hat, ob bei Homer oder in der „Utopia“ von Thomas Morus. Der Mann, der etwas erzählt, was wie Wahrheit klingt, aber nicht belegbar ist, ist ja geradezu ein Paradigma der Literatur.

Aber nicht nur die Literaten, auch die Entdecker selbst waren nicht immer froh über ihre Entdeckungen.

Bereits bei der zweiten Cook-Expedition taucht parallel zur Tahiti-Begeisterung die Tahiti-Klage auf. Man wünscht sich, die Insel wäre nie entdeckt worden. Die ersten Entdecker Tahitis schleppten übrigens die Syphilis auf die Insel, infizierten das Liebesparadies also mit der Blutseuche. Es gehört zu den modernen Paradiesen, dass man sie im Moment der Entdeckung eigentlich schon wieder verfehlt, wodurch wiederum diese romantische, unendliche Sehnsucht nach ihnen angestachelt wird. Den ursprünglichen, unberührten Ort, den man meinte, festgehalten zu haben, hatte man im Moment des Betretens verloren, beschmutzt. In „Der Spaziergang unter den Linden“ von Schiller gibt es die schöne Passage: Ich sage, wenn sie auch die Insel verfehlt, so ist doch die Fahrt nicht verloren.

Verbinden sich auch politischen Utopien mit der Inselfaszination?

Eher weniger. Die sogenannte utopische Literatur und das Verständnis von Utopie als Projektionsfläche einer von der Realität weit entfernten Zukunft sind von Thomas Morus’ „Utopia“ weit entfernt. Morus schreibt zu der Zeit, als Amerika, die Neue Welt, als Inselgruppe angesehenen wird. Während Morus das ganze Arsenals konkreter Inselvorstellungen beherrscht, bedienen sich Nachfolgende nur noch des insularen, abgeschlossenen Raums, auf dem man beliebige Dinge konstruieren kann. Das, was heute immer mit Utopia verbunden wird, könnte genauso gut auch hinter einem Berg stattfinden. Bei Morus aber ist die Insel nicht abgeschlossen: Da finden Kriege statt, da gibt es Handelsbeziehungen, da wird umgebaut. Die Insel wird heute nur noch als Klischee weitertransportiert und immer in derselben Weise darüber verfügt.

Griechenland wurde ja nahegelegt, aus diesem Klischee Geld zu machen und die Inseln zu verkaufen. Was bedeutet es, wenn Griechenland nun tatsächlich Teile von Mykonos verkauft?

Erst mal nicht so viel, denn alles wird verkauft, wo es eine Nachfrage gibt. Der Kauf einer Insel ist allerdings insofern eine Art höherer Betrug, weil man natürlich nicht das einkauft, was unser romantisches Bild der Insel verspricht, sondern ein isoliertes Stück Land mit ein paar Ziegen drauf.

■ Volkmar Billig: „Inseln. Geschichte einer Faszination.“ Matthes & Seitz, Berlin 2010, 304 Seiten, 29,90 Euro