Verwischte Spuren

Die Ausstellung „Erzwungene Wege“ des Berliner „Zentrums gegen Vertreibungen“ versucht sich an einer europäischen Perspektive auf das Thema der Vertreibungen im 20. Jahrhundert. Sie ebnet dabei historische Unterschiede so ein, dass die spezifische deutsche Verantwortlichkeit ausgeblendet wird

Eine Europäisierung des Vertriebenenschicksals ist nur im Rahmen eines internationalen Netzwerks vorstellbar

VON CHRISTIAN SEMLER

Dem historisch interessierten Zeitgenossen bietet sich dieser Tage in Berlin die seltene Chance, zwei Ausstellungen zum gleichen Thema, dem der Vertreibung im 20. Jahrhundert, zu vergleichen. Die Ausstellung des Bonner Hauses der Geschichte im Pei-Bau des Deutschen Historischen Museums konzentriert sich auf Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten Europas nach dem 2. Weltkrieg. Die Hälfte des Ausstellungsraums nimmt die – schließlich geglückte – Integration der Neuankömmlinge in die Bundesrepublik ein. Also eine Geschichte mit Happy End. Die Ausstellung des „Zentrums gegen Vertreibungen“, einer Gründung des Bundes der Vertriebenen (BdV), hat, auf geringerer Fläche und mit weniger Exponaten, den Versuch unternommen, von der Vertreibung und dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich über die Vertreibungen seitens Nazi-Deutschlands und der Flucht und den Vertreibungen der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg bis hin zu den „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien-Herzegowina ein Bild des europäischen Vertreibungsschicksals zu zeichnen. Als gemeinsame Wurzel des Unglücks wird der übersteigerte Nationalstaat mit seiner Vorstellung ethnischer Homogenität ausgemacht.

Im Vorlauf beider Ausstellungen ist es zu einer eigenartigen Verkehrung der Fronten gekommen. Ursprünglich war der BdV in Verdacht geraten, eine Dokumentation mit dem Schwerpunkt Vertreibungen der Deutschen aufzubauen. Dieses Projekt sah sich mit dem dreifachen Vorwurf konfrontiert, die deutsche Täter- mit der Opferrolle zu vertauschen, die Ursachen der Vertreibung auszublenden und durch die Emotionalisierung eine vernünftige Auseinandersetzung mit dem Thema unmöglich zu machen. Es waren gerade diese Befürchtungen, die zum Projekt des Bonner Hauses der Geschichte führten. Jetzt konzentriert sich die Ausstellung im Pei-Haus auf die deutsche Geschichte, während das „Zentrum“ Europa als Bezugspunkt wählt. Und während sich im Pei-Bau emotional sehr berührende Elemente finden wie der Nachbau einer Vertriebenenbaracke, präsentiert die Ausstellung des Zentrums sich in einer bewusst unterkühlten, antiillusionistischen, den Zuschauer auf Distanz haltenden Form.

Also ein komplementäres Unternehmen, alles in Ordnung? Keineswegs. In der Ausstellung des Pei-Baus findet sich eine kritische Reflexion auf die verständigungs- und friedensfeindliche Politik der Vertriebenenverbände in der Nachkriegszeit, wenngleich auch diese Ausstellung an einem neuralgischen Punkt, der nazistischen Vergangenheit vieler der Vertriebenenfunktionäre, fast vollständig versagt. In der Ausstellung des „Zentrums“ wird schon durch die gewählte europäische Perspektive einer solche „deutsche“ Auseinandersetzung vermieden. Gerade diese europäische Einbettung ist es auch, die einer neuen Ideologie des BdV den Weg bahnen soll. An die Stelle der alten, auf Wiedergewinnung und Rückkehr („Schlesien ist unser!“) gerichteten Propaganda soll eine „Europäisierung“ des „Rechts auf Heimat“ treten, wobei insbesondere die Vertreibungen der 90er-Jahre in Bosnien-Herzegowina eine neue, menschenrechtliche Grundierung liefern sollen.

Vor dem Eingang zu der Ausstellung findet sich ein großflächiges Bekenntnis zur „unteilbaren Humanitas“. Menschlichkeit ist freilich unteilbar. Doch werden durch die abstrakte Beschwörung der Menschlichkeit gänzlich unterschiedliche historische Verläufe eingeebnet.

Die Ausstellung besteht aus dem großen „Europa-Saal“, bei dem in Sichthöhe ein durchgängiger Lichtfries angebracht ist. Dort finden sich die exemplarisch ausgewählten Vertreibungen in chronologischer Reihenfolge. Auf dem Fußboden des Saales wird eine verfremdete Europa-Karte ausgebreitet. Dort stehen auch Kuben, an denen Einzelschicksale aufgerufen werden können. In den beiden angrenzenden Räumen sind die Ausstellungsobjekte in offenen, weißgestrichenen Kistenelementen, so genannten Clustern, untergebracht. Das heiße Thema soll abgekühlt werden.

Im Europa-Saal finden sich wesentliche, mit der Vertreibung zusammenhängende, vorzugsweise staatliche Dokumente und Fotos. Die einführenden Texte versuchen den jeweiligen politischen Hintergrund aufzuhellen. Durch diese soll der Besucher bei der Hand genommen werden.

Innerhalb der Chronologie des Lichtfrieses erscheinen die Verfolgung und Vertreibung der Juden bis 1939 – also zunächst aus Deutschland und Österreich – als ein Vertriebenenschicksal. So vorzugehen, heißt, den Gesamtvorgang des Judenmords aufzutrennen und seinen ersten Teil, die vollständige Entrechtung und Isolation der deutschen jüdischen Bevölkerung einschließlich ihrer nur zum Teil geglückten Rettung durch Auswanderung und Flucht, als „Vertriebenenschicksal“ hinzustellen. Auch wenn man der Auffassung ist, die Ermordung der europäischen Juden sei vor 1941 noch nicht Bestandteil der Nazi-Strategie gewesen, stellt sich der Vorgang der schrittweisen Entrechtung, Demütigung und erzwungenen Flucht doch nicht nur als „Vertreibung“ dar. Hier geht es um den inneren Zusammenhang zwischen den Verfolgungen vor und der Schoah an den europäischen Juden nach 1941. Die historische Relativierung des Holocaust mittels einer solchen Präsentation ist offenkundig.

Im Unterschied zu den europäischen Vertreibungen vor und nach der nazistischen Herrschaft waren großflächige Vertreibungen von vornherein Bestandteil des „Grand Design“ der Nazis. Sie folgten dem Projekt eines von den deutschen „Herrenmenschen“ beherrschten slawischen Raumes, mit den entsprechenden größenwahnsinnigen Siedlungsprojekten. Ein Element dieses Projekts war der Generalplan Ost, der in der Ausstellung keine Erwähnung findet. Es geht um systematische Versklavung der vorher vertriebenen slawischen „Untermenschen“, also etwas grundsätzlich Anderes als „ethnische Säuberungen“.

Die Ausstellung des „Zentrums“ vermeidet sorgfältig, die Haltung der deutschen Minderheiten zur jeweiligen Mehrheitsnation in den mittelost-, ost- und südosteuropäischen Ländern darzulegen. Exemplarisch lässt sich dies an der Präsentation zur Vertreibung der Sudentendeutschen zeigen. Die massive Hinwendung der Henlein-Partei zum Nazismus, damit auch das Votum der überwältigenden Mehrheit der Sudetendeutschen, wird ausgeblendet. Geradezu abstrus wirkt die These, die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes für die Deutschen in der Tschechoslowakei sei ein wesentliches Motiv für die Westalliierten gewesen, dem Münchner Abkommen zuzustimmen. Natürlich steckt die Forschung nach Ursache und Folge historischer Ereignisse voller Tücken, und im Falle Böhmens landet man dabei leicht im 17. Jahrhundert. Die pauschale These, die Deutschen seien in der Tschechoslowakei, einem demokratischen Staat in der Nachfolge der Habsburger-Monarchie, als Minderheit systematisch benachteiligt und missachtet worden, geht aber an den historischen Realitäten vorbei. Solche Blindstellen sind nicht zufällig. Sie lassen das Bemühen erkennen, den Vertriebenen Gedanken darüber zu ersparen, inwieweit sie selbst zu dem Verhängnis beitrugen, das 1945 über sie hereinbrach. Generelle exkulpierende Erklärungen findet man mehrmals, so heißt es anlässlich der Vertreibung der Donauschwaben, die nicht geflohene deutschstämmige Bevölkerung „war sich keiner Verbrechen bewusst“.

Im zweiten Teil der Ausstellung werden die Vertreibungen unter systematischen Gesichtspunkten präsentiert. Die einzelnen Kapitel wie Erinnerungskultur, Frauen und Kinder, die für den Transport bestimmten Eisenbahnzüge, aber auch die Lager für Vertriebene samt den Zwangsarbeitslagern nach 1945 geben Gelegenheit, die Härte der Vertreibung ebenso kennenzulernen wie eine oft rührende Sehnsucht nach dem Vertrauten, jetzt Verlorenen. Wir werden in unbekannte Gegenden geführt wie ins einstmals finnische Karelien, oder wir sehen ein verpacktes Möbelensemble aus einer Triester Lagerhalle samt Wagnerbüste. Vor 55 Jahren hat es ein musikliebender vertriebener Italiener dort eingelagert und niemals abgeholt.

Allerdings finden sich – gerade was den schwierigen Komplex der Heimat anlangt – in den erklärenden Texten apodiktische Urteile wie dieses: „Wenn man den Ort, die Erinnerung oder die Sehnsucht verliert, fehlt ein wesentlicher Bezug im Lebensentwurf.“ Womit helfen sich nur diejenigen, die dieses „wesentlichen Bezugs“ entraten müssen?

Im thematischen Teil der Ausstellung findet sich allerdings auch massive Interessenpolitik. So wird anlässlich der Abteilung „Recht und Rechtlosigkeit“ auf eine „breite Diskussion“ unter Völkerrechtlern über die Rechtmäßigkeit der entsprechenden Festlegungen des Potsdamer Abkommens verwiesen, ohne dass diese Diskussion in den Grundzügen dargestellt würde. Ähnliches trifft auch auf die Behandlung des „Rechts auf Heimat“ zu. Fast überflüssig zu erwähnen, dass die völkerrechtlichen Verträge, die die polnische Souveränität über die Gebiete jenseits von Oder und Neiße endgültig bestätigen, keine Erwähnung finden.

Eine „Europäisierung“ des Vertriebenenschicksals, die nicht zur Ausblendung und zur Einebnung führt, ist nur als eine Art Netzwerk vorstellbar. Forschungseinrichtungen, Schulen, Museen und Geschichtswerkstätten der unterschiedlichen Länder müssten miteinander kooperieren, sich auf gemeinsame Projekte einigen. Ein solches Netzwerk könnte auch ohne eine zentrale Institution auskommen. Ein Zentrum gegen Vertreibungen unter der Regie des Bundes der Vertriebenen und mit dem Sitz in Berlin wird hingegen nicht auf die Unterstützung der europäischen „Partnerländer“ rechnen können – und mag es sich noch so europäisch präsentieren.