Der Provokateur

Ein offenbar älterer Jude schrieb: „Was ich in Auschwitz gelernt habe:Nie so werden wie die Übeltäter, die uns dies antun!“

VON PHILIPP GESSLER

Am Ende zeigt Rolf Verleger Familienbilder. Es sind Schwarzweißfotos, gespeichert in einem Computer, die ein für die Bundesrepublik ungewöhnliches Umfeld schildern: ein jüdisches Leben in den 50er-, 60er-Jahren. Wie in der Stuttgarter Synagoge die Thora-Rolle festlich eingeführt wurde, die Papa damals der Gemeinde gespendet hatte. Wie der kleine Rolf die Kerzen des Chanukkaleuchters entzündet. Wie seine Eltern als Hochzeitspaar stolz und ein wenig still in die Kamera schauen: Rolfs Mama, noch blutjung, aber schon eine KZ- und Todesmarsch-Überlebende. Rolfs Vater, 26 Jahre älter als sie, auch er ein Überlebender des Holocaust, in dem seine erste Frau und seine beiden Kinder umgebracht worden waren. Ein Blick auf diese Fotos, und man versteht sofort, warum es Rolf Verleger „sehr verletzt“, wie er sagt, als Antisemit beschimpft zu werden.

Prof. Dr. Rolf Verleger ist Psychologe und forscht über die Neurophysiologie der Kognition – was so kompliziert ist, wie es sich anhört. Nebenher ist er aber auch der Vorsitzende des orthodox geprägten Landesverbandes der jüdischen Gemeinden Schleswig-Holsteins und delegiertes Mitglied des Direktoriums, also etwa der Länderkammer, des Zentralrats der Juden in Deutschland. In dieser Funktion hat der Lübecker etwas gemacht, was man offenbar als Verantwortungsträger in der jüdischen Gemeinschaft derzeit nicht ungestraft tut: Er hat die gegenwärtige israelische Politik im Südlibanon kritisiert. Zunächst intern im Zentralrat, dann öffentlich in der taz. Und seitdem, seit Dienstagmorgen, „ist die Hölle los“, wie der 54-Jährige sagt. Er lacht dabei ein wenig. So wie Männer eben lachen, die wohl bis zu ihrem Lebensende etwas Jungenhaftes haben. Es steckt an dieses Lachen – und bleibt einem doch im Halse stecken.

„Aber“, sagt Rolf Verleger mit einem leicht ironischen Lächeln, „ich wollte es ja so haben.“ Na ja, das ist natürlich übertrieben, denn er wollte ja keineswegs neben einer Flut von bald 70 positiven E-Mails auch solche mit vielen Beschimpfungen bekommen, von denen „aufgeblasenes, dummes Arschloch“ noch zu den harmloseren gehört. Hinzu kam unter anderem die ihm telefonisch überbrachte Aufforderung, doch am besten auf einen jüdischen Friedhof zu gehen und sich dort eine Kugel in den Kopf zu jagen. Es ist nicht leicht, solche Anwürfe wegzustecken, zumal wenn man so sensibel ist wie Rolf Verleger, was jeder erkennt, der nur zwei Minuten in seiner Nähe verbracht hat. Aber dumm ist er nicht, und er wollte provozieren, was ihm perfekt gelungen ist – „und jetzt“, sagt Rolf Verleger lächelnd, „bleibt nur die rigorose Flucht nach vorn.“

Am 23. Juli schrieb Rolf Verleger einen geharnischten Brief an das Präsidium und das Direktorium des Zentralrats. In diesem kritisierte er „Israels Gewaltpolitik“ scharf. Ebenso die öffentliche Parteinahme des Zentralrats „für die militärischen Maßnahmen der israelischen Regierung gegen den Libanon“: „Diese Militäraktion macht Israel nicht sicherer, sondern unsicherer. Der Zorn und die Wut und die Gewalt der Nachbarstaaten werden vervielfacht, der Konflikt wird ausgeweitet anstatt eingedämmt“, zürnte er.

Rolf Verleger beruft sich in seinem Schreiben auf Lehrsätze jüdischer Autoritäten wie Hillel oder Rabbi Akiba und das Bibelwort „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“: „Das glaubt mir doch heutzutage keiner mehr“, so schreibt er, „dass dies das ‚eigentliche Judentum‘ ist, in einer Zeit, in der der jüdische Staat andere Menschen diskriminiert, in Kollektivverantwortung bestraft, gezielte Tötungen ohne Gerichtsverfahren praktiziert, für jeden getöteten Landsmann zehn Libanesen umbringen lässt und ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legt. Ich kann doch wohl vom Zentralrat der Juden in Deutschland erwarten, dass dies wenigstens als Problem gesehen wird.“

Irgendwie sah der Zentralrat tatsächlich ein Problem – allerdings ganz anders, als Rolf Verleger sich das wohl gedacht hatte. Die Zentralratspräsidentin Charlotte Knobloch schrieb ihm einen Brief, etwa im Tonfall: Das sei doch keine Art. Mehr will Rolf Verleger über diesen Brief nicht sagen. Es folgten zwei Briefe von Präsidiumskollegen. Sie wurden in diesem Kreis vom Zentralratsbüro verbreitet, weshalb sie Rolf Verleger als öffentlich ansieht. In dem einen wirft ihm Hanna Sperling, Vorsitzende der westfälischen Gemeinden, vor, „abgedroschene antizionistische Argumente“ zu nutzen, in dem „Chor der einseitigen Verurteiler Israels“ einzustimmen und mit seiner „einseitigen, polemischen Kritik an Israel“ gar den „Feinden“ dieses Staates „direkt in die Hände“ zu spielen. Auch der Vorsitzende der sächsischen Gemeinden, Heinz Joachim Aris, greift Rolf Verleger scharf an und erklärt, dass „die Solidarität mit Israel zu unserer heiligen Pflicht gehört, die in keiner Situation von Juden zur Disposition gestellt werden darf“.

Nach der taz-Veröffentlichung der Briefe von und an Verleger legte Zentralrats-Generalsekretär Stephan Kramer noch einmal nach. Er nannte die Position von Verleger öffentlich „abstrus“, es sei eine „absolute Einzelmeinung“. Der Vorwurf, Israel betreibe eine Gewaltpolitik, sei „absurd“. Der Lübecker bediene sich „antiisraelischer Klischees, die durch keine sachlichen Argumente belegt sind“. Direkt an Rolf Verleger gingen ähnlich scharfe, ablehnende Briefe von Jüdinnen und Juden – aber auch einige mit positiver Resonanz. Ein offenbar älterer Jude schrieb: „Ich bin 100 % mit Ihnen einig.“ Und: „Was ich in Auschwitz gelernt habe: Nie so werden wie die Übeltäter, die uns dies antun!“ Ein Jüdin schrieb: „Ich möchte Ihnen für Ihre Courage und Ihre öffentliche Meinung in Bezug auf den Libanonkrieg und die Taten des Staates Israel danken. Ich kann mich jedem Satz anschließen.“ Und über eine kurze E-Mail des Doyens der israelischen Friedensbewegung, Uri Avnery, hat sich Rolf Verleger vielleicht am meisten gefreut: „Lieber Rolf, Danke vom ganzen Herzen. Sie tun eine Mitzwa. Shalom, Uri.“ Mitzwa ist ein gutes, gottgefälliges Werk.

Rolf Verleger kann mit dieser religiösen Sprache etwas anfangen, denn aufgewachsen ist er in einem ziemlich religiösen Haushalt im baden-württembergischen Ravensburg – und sein Bruder und er hätten das als junge Menschen in jugendlichem Eifer sogar noch auf die Spitze getrieben: Nur koscheres Fleisch wollten sie, anders als ihre Eltern, essen. Es musste extra von Stuttgart geschickt werden. Eine „folie à deux“ nennt Rolf Verleger das heute.

Es folgte eine recht typische Spät-68er-Biografie: „Wilde Ehe“, wie es damals noch hieß, Brokdorf-Demos, einige Jobs und zwei Jahre Arbeitslosigkeit, K-Gruppen-Nähe, Eintritt bei den Grünen vor bald 30 Jahren – und natürlich findet sich heute in der Garage kein Auto, sondern nur mehrere Fahrräder. Die Mitgliedschaft bei Statt-Auto passt ins Bild. Das Religiöse trat, dem Zeitgeist folgend und als Teil eines Abnabelungsprozesses, bald in den Hintergrund, zumal Rolf Verlegers Frau keine Jüdin ist. Als aber dann mit den Kindern die ersten Adventskerzen und Weihnachtsbäume ins Haus kamen, fand Rolf Verleger, ein wenig irritiert, im Gegenzug langsam wieder zu seiner Religion zurück. „Eine Sehnsucht nach Heimat hatte ich ja.“

Vergessen waren die alten Gebete nie, und noch heute kann Rolf Verleger ganze Absätze auf Hebräisch aus der Thora zitieren. Das Engagement für die jüdische Gemeinschaft aber blühte erst mit der Bewunderung für den früheren Zentralratspräsidenten Ignatz Bubis auf. Und mit der Masse an jüdischen Zuwanderern, die ab Anfang der 90er-Jahre auch in Lübeck in die Gemeinde integriert werden musste: „Das habe ich als Auftrag begriffen.“ Dass Unbekannte die Lübecker Synagoge zweimal anzünden wollten, verstärkte Verlegers Einsatz noch – zumal der einhellige öffentliche Protest der Bürger der Hansestadt gegen die Anschläge seine Zweifel schnell beiseite fegten: „Ja, das ist meine Heimat“, sagte er sich, „doch, hier bin ich richtig.“

Rolf Verlegers Bruder und Schwester sind schon als Jugendliche nach Israel ausgewandert. Sie haben „Alija gemacht“, so der Fachbegriff. Rolfs Verhältnis zu seinem Bruder war lange gestört, weil der in die ultraorthodoxe Ecke abrutschte – bis zu seinem absurden Versuch, seinen Kindern zu verheimlichen, dass sie nichtjüdische Cousins in Deutschland haben. „Furcht vor Ansteckung“, kommentiert das Rolf Verleger bitter. Aber offenbar ging es zugleich darum, die Heiratschancen seiner Kinder in orthodoxen Kreisen nicht zu verschlechtern. Auch diese Erfahrungen spielen eine Rolle, wenn Rolf Verleger heute über Israel redet, wie er einräumt.

Seine Israel-Kritik versteht Rolf Verleger dennoch als die eines Freundes des Landes, das er von vielen Besuchen gut kennt: „Dieses Land bedeutet mir einfach mehr als andere“, betont er. Beim Friedensschluss zwischen Arafat und Rabin damals vor dem Weißen Haus seien ihm die Tränen gekommen vor Freude und Rührung. Schon wie vor drei Jahren, als er einen umstrittenen Boykott von Waren aus den besetzten Gebieten, eine Initiative aus dem Attac-Umfeld, unterstützte, meint er heute: „Israel findet allein gar nicht mehr auf den Deeskalationsweg, man muss es puschen.“

Das derzeitige Geschehen, „demontiert doch das Judentum als Religion“, argumentiert Rolf Verleger. Die starke Identifikation vieler Juden in Deutschland mit Israel sieht er kritisch: „Für manche ist die Identifikation mit Israel der wesentliche Teil des Judentums, da sie sonst nichts mehr mit dem Judentum verbindet.“ Er dagegen sei, wie es seine Tochter mal gesagt habe, „mit Israel befreundet“. Wer aber, habe sie gefragt, sei ein wahrer Freund: Der, der den Freund immer bestärke – oder der, der ihn auch einmal kritisiere? Und dann zitiert er noch einmal seine Tochter, die ihm angesichts des gegenwärtigen Konflikts mit dem Zentralrat „liebevoll-ironisch“ sagte: „Du wirst als Gerechter leben und sterben.“ Aber vielleicht war das ja auch gar nicht ironisch gemeint.

Nachtrag: Am Freitag wurde Rolf Verleger darüber informiert, dass der Vorstand seiner Lübecker Gemeinde aus Protest gegen seine israelkritischen Aussagen erwägt, seine Entsendung in den Landesverband zurückzuziehen. Damit wäre Rolf Verleger dann de facto sein Amt als Landesvorsitzender los – und seinen Sitz im Zentralrat wohl auch.