Missgeburten gehört die Zukunft

GESELLSCHAFTSBESCHREIBUNG George Saunders erkundet die Krise des Subjekts und macht Science-Fiction wieder möglich: „Zehnter Dezember“

VON MAIK SÖHLER

Obliegt es einem Satiriker, die Science-Fiction zu retten und diesem literarischen Genre den Weg in eine Zukunft zu weisen, an die es selbst kaum mehr glaubt? Nach der Lektüre des neuen Kurzgeschichtenbandes „Zehnter Dezember“ des US-Schriftstellers George Saunders kann man die Frage getrost mit Ja beantworten.

Als sich die Literatur mit der Wissenschaft messen wollte, entstand Science-Fiction. In ihrer besten Zeit besaß Science-Fiction eine solche Ausstrahlung, dass sich die Wissenschaft wiederum mit ihr messen und all die schönen Dinge entwickeln wollte, die es in der Literatur schon gab, in der Realität aber noch nicht. Ein wunderbare Dialektik zum Wohle der Menschheit deutete sich an.

Davon ist im Jahr 2014 nichts geblieben außer negativer Dialektik. Die Totalüberwachung von NSA und GCHQ haben Wissenschaft und Science-Fiction in abstrakter und abgewandelter Form früh vorhergesehen, und doch folgt wie so oft bei Orakeln daraus nichts. Die Wissenschaft setzt ihre Arbeit anderweitig fort, die Science-Fiction suhlt sich seit Jahren in der Krise. Dort angekommen, aber anders als seine Kollegen, ist auch Saunders.

Denn in „Zehnter Dezember“ ist die Krise das, was sie auch in der Welt jenseits der Literatur oft ist: eine Mischung aus Mangel an Einkommen, der Angst vor sozialem Abstieg, fieser Neidbeißerei gegen andere und dem unbedingten Willen, sich den ökonomischen Gewinnern in allen Bereichen zu unterwerfen. Ob seine Geschichten dabei in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft spielen, ist für Saunders nicht von Bedeutung. Er verweigert seinen Storys konsequent Jahresangaben oder andere Verankerungen in der Zeit und betont damit, dass die Krise zugleich zeitlos und essenziell ist.

In der Story „Die Semplica-Girl-Tagebücher“ ist es eine Mittelschichtsfamilie, die an den Abgrund gerät, weil sie sich am Status wohlhabender Nachbarn orientiert. Ein Rubbellosgewinn sorgt kurzfristig für Geld, langfristig droht das finanzielle Desaster, nachdem ein Kind einen Fehler gemacht hat. Auf gerade einmal 32 Seiten entfaltet sich eine Gesellschaft, in der die Armut großer Teile der Weltbevölkerung auf die Wünsche von Kindern trifft, bei teuren Technologietrends mitmachen zu wollen. Statt die anstrengende Konfrontation mit dem eigenen Nachwuchs zu suchen, fliehen die Eltern in die Ideologie ihrer Ära: positiv zu denken um jeden Preis.

Diese Story könnte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts spielen, eine nur leicht fiktionalisierte Variante der Gegenwart sein oder das Durchschnittsfamilienszenario im Jahr 2030 kennzeichnen. Gleiches gilt für die Story „Zuhause“, nur steht hier die Unterschicht im Zentrum. Die Räumung eines Hauses wegen nicht bezahlter Miete steht an, und es offenbart sich die Härte einer Gesellschaft, die nicht mal mehr mit dem konservativen Standardlamento über mangelnde freundschaftliche und familiäre Bindungen zu fassen ist. Was bleibt, sind Phrasen, die Weigerung aller Beteiligten, über irgendetwas nachzudenken, und der Terror des bloßen Erlebens und Tuns.

Das Höchstmaß an Intellektualität erreicht der Ich-Erzähler, ein heimgekehrter Soldat, am Ende der Kurzgeschichte: „Findet einen Weg, mich zurückzubringen, ihr Wichser, oder es wird euch leidtun, ihr Missgeburten, so leid, das hat die Welt noch nicht gesehen.“

Es ist bezeichnend, dass Saunders in den USA als Satiriker gilt. Seine Art, literarische Figuren als Subjekte ohne jegliches Bewusstsein ihrer selbst in Umgebungen der Unterhaltungsindustrie einzupassen, muss dann nicht ernst genommen werden; ist ja Satire. Doch auch der geneigte Europäer, der gerne auf die USA zeigt, um von materieller wie intellektueller Armut in Europa nicht reden zu müssen, erschrickt: Saunders’ Storys könnten überall in der westlichen Welt spielen.

Saunders setzt mit „Zehnter Dezember“ unbeirrt den Weg fort, den er in den späten neunziger und frühen nuller Jahren mit „BürgerKriegsLand fast am Ende“ und „Pastoralien“ begonnen hat. Von seinen literarischen Mitteln – Präzision, Härte und kosmopolitischer Fantasie – können die wenigen verbliebenen Science-Fiction-Autoren nur lernen. Auch oder gerade weil George Saunders keiner von ihnen ist.

George Saunders: „Zehnter Dezember“. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Luchterhand, München, 2014, 272 Seiten, 19,99 Euro