„Ein gefräßiges Monster“

Sportphilosoph Eckhard Meinberg über die Dopingmentalität nicht nur im Leistungssport, die Sportler als Täter und Opfer in einem System, in dem immer mehr Risikobereitschaft eingefordert wird

INTERVIEW JUTTA HEESS

taz: Herr Meinberg, zurzeit vergeht kaum ein Tag ohne Dopingmeldung. Im Sport läuft offenbar nichts mehr ohne verbotene Substanzen?

Eckhard Meinberg: Vermutlich muss man davon ausgehen, dass Doping im großen Stil an der Tagesordnung ist. Allerdings muss man die Sportarten differenziert beurteilen. Hinzu kommt, dass sich vermutlich rund 300.000 Hobbysportler dopen. Doping ist also kein Privileg des Spitzensports, die Dopingmentalität hat alle Sportbereiche erfasst, alle Altersgruppen, alle Geschlechter. Doping ist total geworden.

Woran liegt das?

Das liegt sicher zu einem großen Teil an der Risikobereitschaft der Sportler, die kein Zufall ist, sondern Ausdruck eines gewandelten Sports. Ich denke, vor allem im Spitzensport ist es eine Folge des berühmten Mottos „Höher, schneller, weiter“, das inzwischen um ein „Riskanter, kommerzieller, ungesünder“ erweitert werden kann. So kommt es zu einer Gratwanderung zwischen Glanz, Glamour, Elend und Niedergang. Doping ist gewissermaßen eine Bewältigungsstrategie dieses zunehmenden Risikos.

Der Sportler wird also mehr oder weniger zum Dopen gezwungen?

Vielleicht nicht gerade gezwungen, aber er steckt in einem System, das eine große Versuchung und Verführung zum Doping nahelegt. Das hängt sicherlich mit dem Überbietungsprinzip eng zusammen, das ja in keinem anderen menschlichen Handlungsfeld derart ausgeprägt ist wie im Sport. Wichtig ist auch die ganz starke Sieger- und Gewinnerfixierung, das unbedingte Erfolg-haben-Müssen, auch um weiter finanziell unterstützt zu werden. Der zweite oder dritte Platz wird fast nicht gewürdigt, vom vierten ist schon keine Rede mehr. Und beim Sport ist es die starke Abhängigkeit vom Körper, der für die Leistungserbringung notwendig ist – da greift man schnell mal zur Pille.

Dabei ist doch gerade der Körper das Kapital des Athleten, den er durch Doping stark gefährdet.

Es gibt Sportler – und man muss unterstellen, dass es nicht gerade wenige sind –, denen das völlig gleichgültig ist. Die nehmen die Risiken ganz bewusst in Kauf, um einmal oder mehrmals im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen. Was diese Situation noch verschärft, sind die für die Athleten zum Teil zu hoch gesteckten Leistungserwartungen, die erfüllt werden müssen, um auch mit der internationalen Konkurrenz mithalten zu können. Man kann im Vergleich zu früheren Zeiten von einem verschärften Konkurrenzdruck in vielen Sportarten sprechen, und der stiftet indirekt zum Doping an. Man spricht deshalb von einer „Dopingfalle“, in die die Sportler geraten, und dieser Falle kann man nur schwer entrinnen.

Aber Sport ohne Sieger und Verlierer wäre auch langweilig.

Ja, das wäre kein Sport mehr. Das ist ja gerade das Faszinierende am Sport, der Wettkampfcharakter, der Konkurrenzgedanke. Man muss diese Systemzwänge aber sehr ernst nehmen, um das Dopingverhalten der Aktiven besser beurteilen und einschätzen zu können, denn der Sportler handelt nicht freischwebend, sondern ist eingebunden in vorgegebene Strukturen. Aber die öffentlichen Diskussionen neigen dazu, das Dopingverhalten ganz stark zu personalisieren. Der Athlet wird angeprangert, wird moralisch gebrandmarkt, er ist der Buhmann. Und das ist in der Diskussion eigentlich zu kurzsichtig. Neben dem Sportsystem an sich muss auch das Unterstützungsumfeld – Trainer, Funktionäre, Ärzte – unbedingt zur Rechenschaft gezogen werden.

In der Regel sind aber weder der dopende Sportler noch das Umfeld geständig, sondern lügen sich um Kopf und Kragen. Landis leugnet noch nach zwei positiven Dopingtests, Ullrich weist alle Schuld von sich.

Das sind dieselben Systemzwänge, die diese Dopingspirale auslösen können. Der Gedopte ist dadurch zum Lügen genötigt. Wenn er den kategorischen Doping-Imperativ in Anlehnung an Kant verinnerlicht hat, „Handle so, dass du dich nicht ertappen lässt“, dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu kaschieren, zu lügen, sich in Verheimlichungstaktiken einzuüben. Und das ist weitaus mehr als ein Ritual, sondern konstitutiv für die heutige Dopingpraxis. Das Täuschen, Vortäuschen muss er beherrschen. Der Sportler will ja mehr scheinen als sein. Und wo die Bereitschaft zum Lügen wächst und es auch tatsächlich praktiziert wird, da werden Glaubwürdigkeit und Vertrauen entwertet und diskriminiert. Meines Erachtens ist Doping der Humusboden für die Atmosphäre des Misstrauens, die den Sport weitgehend erfasst hat.

Die wenigen Sportler, die die Karten auf den Tisch legen, wie der spanische Radprofi Jesús Manzano haben es somit umso schwerer?

Oder wie zum Beispiel der deutsche Stabhochspringer Lars Börgeling, der während der Leichtathletik-EM sagte, dass seiner Meinung nach von acht Sprintern in einem olympischen 100-Meter-Finale mindestens fünf gedopt sind. Ja, es ist paradox. Sportler, die sich oder andere outen oder das Doping-Problem ansprechen, gelten als Nestbeschmutzer, als Verräter. Vielleicht wäre es möglich und sinnvoll, eine Kronzeugenregelung einzuführen. Das müsste aber gesetzlich entsprechend vorbereitet werden.

Sind Sie für ein Anti-Doping-Gesetz?

Ich stehe einem Anti-Doping-Gesetz positiv gegenüber, zumal durch ein solches Gesetz meines Erachtens der saubere Athlet am wirkungsvollsten geschützt werden könnte. Es muss gehandelt werden, denn Doping ist mehr als ein ethisches Problem. Es ist tiefer liegend und erweist sich – wenn man das anthropologisch deutet – als ein gefräßiges Monster. Insofern schlummern im Doping zerstörerische Kräfte, zerstörerisch im Hinblick auf die Idee des Sports, die ja ursprünglich das Messen, das Konkurrieren der natürlichen Kräfte der Aktiven untereinander beinhaltete. Die Physis, die Natur wird zerstört, bis hin zum Tod.

Ein ziemlich destruktives System also, dieser Sport.

Viele Athleten sind in einem Netz von Abhängigkeiten verstrickt und überschauen gar nicht die Konsequenzen dessen, was sie da einnehmen oder wozu sie überredet werden. Die Sportler sind zum Teil entmündigt. Man kann darüber streiten, ob sie nicht nur Täter, sondern auch Opfer sind.